Gedanken wollen oft – wie Kinder und Hunde –,
dass man mit ihnen im Freien spazieren geht.
Eine Sache, die das Leben in nahezu jeder Situation ein wenig besser machen kann, ist Spazierengehen. (Außer man hat sich gerade ein Bein gebrochen.)
Gedanken wollen oft – wie Kinder und Hunde –,
dass man mit ihnen im Freien spazieren geht.
Eine Sache, die das Leben in nahezu jeder Situation ein wenig besser machen kann, ist Spazierengehen. (Außer man hat sich gerade ein Bein gebrochen.)
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Was ist demnach das beste Rezept für ein Erdenleben
überhaupt, oben wie unten?: ‚Aufs Dorf ziehen. Doof sein. Rammeln. Maul halten.
Kirche gehen. Wenn n großer Mann in der Nähe auftaucht, in n Stall verschwinden:
dahin kommt er kaum nach!
Wenn sie jung sind, dann wollen sie möglichst schnell weg aus den Dörfern, Klein- und Vorstädten, in denen sie aufgewachsen sind. Sie wollen nach Berlin oder Hamburg, von mir aus aus nach München oder Köln, um ihre Pläne zu verwirklichen. Obwohl die allermeisten Stadtbewohner von irgendwo her gekommen sind, blicken sie bereits nach kürzester Zeit ganz selbstverständlich mit einer gewissen Arroganz der Großstadt auf das Leben in der Provinz. Im Urbanen haben sie so sie so viele Möglichkeiten, die das Land nicht bietet: Sie können Theater, Museen und Konzerte besuchen, was sie jedoch nur sehr selten tun. Ich auch.
Ich fahre nicht sonderlich gern in den Urlaub. Aus Gründen hat mich im vergangenen Jahr meine weiteste Reise ausgerechnet nach Bayern gebracht. Vom Freistaat kennt man als Nordlicht normalerweise gerade einmal München (Oktoberfest) und vielleicht noch Nürnberg (Christkindlmarkt) – nun aber bin ich in der allertiefsten oberbayerischen Provinz gelandet. Zu meiner Überraschung empfinde ich es viel weniger schlimm als gedacht, obwohl sogar die jüngeren Menschen hier so Bayerisch sprechen, dass sie kaum zu verstehen sind. Zunächst dachte ich, sie könnten sich ruhig etwas bemühen, wenigstens mit mir ein bißchen hochdeutscher zu sprechen, aber sie tun es einfach nicht. Vielleicht wollen sie nicht, vielleicht können sie auch ganz einfach nicht. Obwohl es mich einige Anstrengung kostet, gewöhne ich mich nach ein paar Tagen daran, und finde Gefallen an der Übung der Aussprache des Wortes „Oachkatzlschwoaf“, was meine Begleitung zunehmend nervt, deren Mutter aber irgendwie zu amüsieren scheint. Letztere kocht mir zur Belohnung für meine Bemühungen um die bayerische Sprache den allerbesten Schweinsbraten mit Knödel, den ich je gegessen habe. Von der Kruste träume ich heute noch.
Möglicherweise ist es mein verklärter Blick des Besuchers oder das gute Weißbier aus der kleinen Lokalbrauerei, das wir täglich aus historischen dickwändigen Gläsern trinken: Die Menschen hier machen einen zufriedenen Eindruck. Die Söhne der Familie sind in der freiwilligen Feuerwehr aktiv und pumpen in der Nachbarschaft überflutete Keller ab, man hat hinter dem Haus eine eigene Fischzucht (vom Großvater geerbt), gewinnt seinen Strom aus der Kraft des Wassers des am Haus vorbeifließenden Baches und man ist gegen die Verschandelung des schönen Isentals durch den Bau der Autobahn A94. Zum ersten Mal beginne ich zu spüren, dass das Konservative durchaus auch sympathische Züge haben kann.
Wir besuchen ein Dorffest, für das wir zunächst 20 km übers Land fahren müssen: Die meisten Besucher kennen einander hier von klein auf an, zuweilen trägt man Lederhosen und Dirndl, Jung und Alt sitzen im Bierzelt bei Blasmusik zusammen, der Kellner stellt einem unaufgefordert eine neue Maß hin und die Brezen sind riesig. Insgeheim hoffe ich auf eine bierselige Keilerei mit zünftigen Watschen um die Gunst der Schönsten des Dorfes, aber die Jüngeren stehen entspannt am Autoscooter, während die Verliebten ihrer Holden an der Schießbude Blumen und kleine Stofftiere ergattern.
Alles scheint einfacher zu sein als in der Stadt, mag man denken, was sicher nicht richtig ist, aber in diesem Moment so wirkt: man heiratet, bekommt Kinder und zieht in ein Haus mit Garten. Die Menschen, die hier leben, sind alle angekommen, obwohl die meisten von ihnen niemals weg waren. Alle sind irgendwie geerdet, alles geht seinen geregelten Gang – und plötzlich frage ich mich, ob ein Leben auf dem Lande möglich ist. Immerhin gibt es dort mittlerweile nahezu flächendeckend schnelle Breitbandverbindungen ins Internet.
Zurück in der Großstadt verwerfe ich diesen Gedanken schnell wieder. Schließlich hat auch meine Begleitung gute Gründe, warum sie der vermeintlichen Landidylle den Rücken kehrte. Das beste Rezept für mein Erdenleben ist es wohl eher nicht, aufs Dorf zu ziehen, auch wenn Arno Schmidt dies einst behauptete. Aber der war ja irgendwie auch verrückt. (Trotzdem wäre ich gern noch einmal nach Bayern gefahren – für ein paar Tage.)
Die kleinste Zelle eines Wortes ist ein Buchstabe. Die kleinste Zelle von Musik ist ein Ton. Die kleinste Zelle von Stammheim ist die Nummer 7 (oder Nummer 8). Was aber ist die kleinste Zelle von Heimat?
Planet Erde, Europa, Deutschland, Hamburg oder Berlin, Winterhude oder Prenzlauer Berg, eine Straße, ein Café, ein Sofa. Was ist die kleinste Zelle von Heimat? Ich begebe mich auf die Suche nach ihr. Zunächst das Naheliegende: Suchanfrage im Internet. Kein Ergebnis. Kann es etwas geben, das es nicht auf Google gibt? Die Maschine schlägt vor: „Die kleinste Zelle im Menschlichen Körper.“ Ich will keinen Körper, ich will Heimat.
Tage später, Hamburg, 12.17 Uhr. Es klingelt an der Tür. Seit über drei Stunden warte ich darauf, dass es klingelt. Endlich ist es so weit: der Heizungsableser ist da. Heimat ist da, wo man auf den Heizungsableser wartet, denke ich. Aber sofort schießt es mir in den Kopf, dass das Quatsch ist, denn weder ein Ort, an dem man auf einen Menschen wartet, der einen unverständlichen Wert von kleinen Röhrchen an Heizkörpern abliest, noch den Ableser selbst würde man vermissen, wenn man sich an einem ganz anderen Ort befände. Und Heimat ist doch etwas, das man vermisst, wenn man gerade ganz woanders ist. Also frage ich den Heizungsableser: „Was ist Heimat? Also nicht so global, sondern eher: Was ist die kleinste Zelle von Heimat?“ Er schüttelt mit dem Kopf und sagt: nichts. Warum habe ich auch ausgerechnet den Ableser gefragt, frage ich mich nun. Vermutlich hätte er etwas sagen können wie „Heimat ist da, wo man die Heizung anstellt, wenn einem kalt wird“, oder so ähnlich. Stattdessen gibt er mir den Ratschlag, doch einfach mal im Internet zu recherchieren.
Wochen später, Zwischenstop im Café: Vertraute Gesichter, die bewährte Tageszeitung, Cappuccino. Es ist eine Art Offline-Social-Network, ganz ohne lästige Kontaktanfragen von Leuten, die man nicht kennt und auch nicht kennenlernen will, oder Hinweise darauf, was irgendwem gefällt. Es ist gut hier, denke ich, während ich auf meinem roten Lieblingssofa sitze und ein Stück Käsekuchen genieße.
Stunden später Berlin, am selben Abend, Hauptbahnhof: Sushi, Burger, Krautsalat im Roggenbrötchen, Naturkosmetik, Drogeriemarkt, Fotoladen, WC-Center; an den Bahnsteigen: Wartende, Abschiede, Begrüßungen. Manche steigen in den Zug, andere werfen sich vor ihn. Lautsprecherdurchsagen, Werbeplakate, Coffe-to-Go, Schließfächer, Bahnhofsmission, Friseur, Rollschuhe verboten, Autovermietung, Stadtrundfahrt. Seit Wochen beschäftigt mich die Frage nach der kleinsten Zelle von Heimat, DkZvH, wie ich sie mittlerweile liebevoll nenne, seitdem mich die Macher dieses Magazins darum gebeten haben, darüber einen kleinen Beitrag zu verfassen.
Kann Berlin eine Heimat sein, wenn schon der Hauptbahnhof so unübersichtlich ist? Die kühle Architektur, die Hektik, das Stimmengewirr laden zur Umkehr nach Hamburg ein, aber dort ist es am Bahnhof genau so, nur etwas kleiner. Aber muss man an Heimat alles uneingeschränkt lieben?An Hamburg mag man den Hafen und die Elbe. Aber was ist mit Mümmelmannsberg und der Elbphilharmonie? An St. Pauli mag man den Charme des etwas Heruntergekommenen, Astra aus der Flasche und vielleicht auch noch den Fußballverein. Aber was ist mit den besoffenen Touristen und der Hundescheiße auf der Straße? Und Berlin? So schlecht ist es nicht, wie alle in Hamburg immer sagen.
Die Suche geht weiter: Die kleinste Zelle von Heimat, das ist ein Ort, an dem man doch vielleicht alles uneingeschränkt mögen kann. Ich begebe mich noch einmal ins Internet. In das Feld der Suchmaschine gebe ich jetzt nur das Wort „Heimat“ ein: Heimat ist eine Werbeagentur, verrät mir die Suchmaschine und zweifle, ob „Heimat“ wirklich eine Heimat ist. Ich schlage in der Wikipedia nach: „Heimat verweist zumeist auf eine Beziehung zwischen Menschen und Raum […] Mit dem Wort „Heimat“ können somit nicht nur konkrete Orte (die Heimstätte eines Menschen), sondern ganz allgemein auch reale oder vorgestellte Objekte und Menschen bezeichnet werden, mit denen Menschen sich identifizieren und die sie positiv bewerten.“
Ich versuche, mir ein vorgestelltes Objekt vorzustellen, das ich positiv bewerte: ein Wiener Schnitzel – groß wie ein Teller, dünn wie ein Pfannkuchen, knusprig dünn paniert, innen saftig. Aber was ist mit der Identifikation? Identifikation ist auch das Einfühlen in eine andere Person. Selbst unter der Annahme, dass ein Schnitzel eine Person wäre, möchte ich mich nicht mit einem Schnitzel identifizieren. Nicht einmal mit der Vorstufe des glücklich auf einer grünen Weide grasenden Bio-Kalbes. Ein Schnitzel ist also keine Heimat und somit beinhaltet es auch nicht DkZvH.
Ziemlich genau sechs Wochen hatte ich Zeit für diesen Text, in weniger als zwei Stunden muss ich ihn abgeben. Was DkZvH ist, weiß ich noch immer nicht. Ich beginne zu verzweifeln, verwerfe alle Genken über Suchmaschinen, Bahnhöfe, Werbeagenturen, Identifikation und Fleischgerichte und tippe in meinen Rechner: Die kleinste Zelle von Heimat ist das bequeme Sofa, auf dem ich gerade sitze.
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Dieser Beitrag wurde im Mai 2010 im stijlroyal Heimatmagazin #13 veröffentlich. Es erschien unter anderem in den limitierten Sondereditionen „Zenzi“, „bosch“ und „Café du passage“.