Es tönen die Lieder, der Frühling kehrt wieder

Das Büro war gemeinhin kein sonderlich angenehmer Ort. Nur manchmal war es erträglich, wenn er mit seinem Lieblingskollegen, dem Anästhesisten, auf dem langen Flur „Es tönen die Lieder, der Frühling kehrt wieder“ im Kanon sang. Naturgemäß taten sie das antizyklisch stets im Herbst oder Winter, während sie im Lenz bevorzugt Weihnachtslieder anstimmten. Die sogenannten Kollegen schüttelten darüber stets ihre Köpfe. Das war das einzige, zu dem sie zu gebrauchen waren.

Eine vergleichbare Empörung vermochte er hervorzurufen, als er einige Jahre zuvor im Großraumbüro einer Universalbank ein Schild mit der Aufschrift „Heute ist ein guter Tag!“ auf seinem Schreibtisch aufstellte. Der sich aus bis heute unerklärlichen Gründen hiervon provoziert gefühlte Vorgesetzte bat eindringlich um sofortige Entfernung. Dieser Bitte konnte er nicht entsprechen, da dies verständlicherweise seinen Tag nicht verbesserte. So ging es lange hin und her. Irgendwann gab er nach, baute sein Schild ab und verließ das Großraumbüro für immer.

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Euro-Wut-Teller

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In trauter Runde sitzen die journalistischen Speerspitzen von BILD und SPIEGEL ONLINE in der neuen Gemeinschaftskantine und feiern den Fall des geschiedenen Bundespräsidenten.

Aber nach der investigativen Niedertracht ist vor der Medienkampagne. Und so entwickelt die neue Allianz der Hetzmedien gemeinsam die Vision der totalen Euro-Wut. Wie ein Frosch sitzt Griechenland im Topf, während die vierte Gewalt langsam die Temperatur hochdreht. Freilich darf dabei niemand merken, dass die Wirtschaftsjournalisten mit geisteswissenschaftlichem Hintergrund, die einst auf einem Ein-Tages-Kurs bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft ihres Vertrauens das Bilanzenlesen lernten, jahrelang nicht allzu genau hingeschaut haben. Obschon die Anzeichen der Krise freilich nicht allzu schwer erkennbar gewesen wären.

Und so schaufelt man noch ein letztes Mal, bevor man Hand in Hand die Gemeinschaftswährung auf Ramschniveau herunterschreibt, große Berge von Gyros in sich hinein und spült diese mit Ouzo herunter. Die letzten Eypos haben die Verlage in neues Geschirr investiert. Großmutters Währungsreform-Wandteller lieferten mit ihrem Schriftzug die Vorlage: „Iss und trink, solang Dir’s schmeckt. Schon zweimal ist uns ’s Geld verreckt.“ Die Mahlzeit ist vorzüglich, die Küche hat ihr AAA-Rating erfolgreich verteidigt. Das Ekelfleisch ist in den Köpfen.

The Crack

The Crack

There is a crack in everything,
that’s how the light gets in.

(Leonard Cohen)

Sylt

Westerland auf Sylt, 7. März 2012

„Die Wogen, ihr Grollen, die Wolken vor und über mir,
der Strand, die Dünen, das graue Gras, es war alles mein.“

(Emil Nolde, Sylt 1930)

Noch einmal die dicke Winterjacke anziehen und einige Stunden mit der ruckelnden Regionalbahn durch das flache Marschland fahren, schließlich über den elf Kilometer langen Damm die Insel erreichen.

Ein Jahr, sechs Monate und 23 Tage ist es her, dass ich zuletzt das Meer erblickte. Der Wetterbericht für heute hat Kälte, Sturm und Regen vorausgesagt und sich dieses Mal nicht geirrt. Das ist okay, weil die Sehnsucht nach dem Meer stärker war als der Gegenwind. Ich gehe spazieren und immer wieder bleibe ich stehen, um einfach nur minutenlang in die Weite zu schauen.

Ich will noch eine Postkarte schreiben, bevor ich die Insel wieder verlasse, aber es ist nicht leicht, ein Motiv ohne Sonnenuntergangskitsch, Strandkörbe oder Möwen zu finden. Die Spröde der Natur, die sich Jahr für Jahr ein Stück der Insel zurückerobert, findet vor den Objektiven der Postkartenindustrie nicht statt. Viel zu oft muss man sich für das kleinste Übel entscheiden, weil sonst die Worte ungeschrieben blieben. Ich werfe die Karte in den Briefkasten und einen Augenblick später wünschte ich, ich könnte sie wieder aus ihm herausholen. Aber dafür ist es zu spät.

Bevor mein Zug fährt, gehe ich noch einmal zurück an den Strand: die See, die Wellen, die Gischt, die Fragen. Aber naturgemäß keine Antworten.