Geburtsurkunde

Nachdem sie nun schon einige Jahre mit ihrem Freund zusammengelebt hatte, bat sie ihren Vater um die Aushändigung ihrer Geburtsurkunde. Dieser dachte, was Väter in diesen Momenten zu denken pflegen. Obwohl es nicht seine Art war, sich zu freuen, freute er sich ein bißchen. Als sie ihre Geburtsurkunde in den Händen hielt, ging sie damit spornstreichs zum Amt und trat aus der Kirche aus. (Dass sie das mühsam beschaffte Dokument für diesen Verwaltungsakt gar nicht benötigte, wusste sie nicht.) Die ersparte Kirchensteuer konnte sie gut gebrauchen, denn am darauffolgenden Tag bezog sie ihre eigene Ein-Zimmer-Wohnung in einem Szeneviertel der Stadt.

Öffentlicher Bücherschrank

Dass es um die kulturelle Daseinsvorsorge im kleinstädtischen Raum schlecht bestellt ist, ist ein offenes Geheimnis. Ausgerechnet die Gastwirte der Stadt haben sich zusammengetan, um der feuilletonistischen Ödnis Einhalt zu gebieten. Zwecks Reanimation der längsten Fußgängerzone Norddeutschlands haben sie in einer ausgemusterten Telefonzelle einen öffentlichen Bücherschrank initiiert. Die Stadtverwaltung hat sich freundlicherweise bereiterklärt, die hierfür benötigte Fläche von rund einem Quadratmeter mietfrei zu überlassen. Das ist durchaus lobenswert.

Das Prinzip ist einfach: Nicht mehr benötigte Bücher können in das in der Telefonzelle befindliche Regal gestellt werden. Wer Interesse an einem dieser Bücher hat, darf es kostenlos mitnehmen und wird im Gegenzug gebeten, bei Gelegenheit auch selbst ein Druckerzeugnis zur Verfügung zu stellen. Seit einiger Zeit beobachte ich dieses Angebot nun aufmerksam und stelle fest, dass es gut angenommen wird. Die sich direkt gegenüber befindlich Buchhandlich wäre jedenfalls froh über einen so schnell drehenden Warenbestand.

Ab und zu sind ein paar ganz brauchbare Klassiker im Angebot. Durchgestrichene Exlibris deuten darauf hin, dass sich Gymnasiasten hier gern ihrer Sartre- und Camus-Bände entledigen, aber auch zerfledderte Reclam-Hefte stehen hoch im Kurs. Freilich handelt es sich bei den meisten Büchern um Schund, der im Prinzip nicht zu ertragen ist. Aber ein Blick in Buchkaufhäuser und Bestsellerlisten verrät, dass dies nur ein Spiegel der Buchbranche ist.

Halt auf freier Strecke

Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.
(Thomas Bernhard)

Wo früher das Lieblingskino meiner Jugend stand, befinden sich heute die zumeist ungenutzten Gesellschaftsräume eines Hotels. Statt des Verzehrkinos mit kleinen Tischen und Klingeln, mit denen man während der Vorstellung die Bedienung zu sich bitten konnte, um Eiskonfekt und Bier zu bestellen, und der Bar, an der man zigaretterauchend einen Film genießen konnte, gibt es an dieser Stelle nur noch Schnaps und Butterkuchen zu traurigen Anlässen: Beerdigungen und Hochzeiten. Von den ursprünglich drei Kinos in der Kleinstadt hat nur eines überlebt; das Siechtum dominiert die Vitalität jedoch merklich. Einmal wöchentlich gibt es „Kino für Kenner“, zu diesem Anlass werden einmal im Monat Qualitätsfilme gezeigt.

Kinokarte
Kinokarte

Ich investiere weniger als die Hälfte des großstadtüblichen Eintrittspreises, um mir Andreas Dresens „Halt auf freier Strecke“ anzusehen, den mir ein Freund bereits vor über vier Monaten empfohlen hat, als der Film in der Hauptstadt anlief. Damals, mit ihr, war ich oft im Kino; im letzten Jahr nicht ein einziges Mal, denke ich, während ein Werbefilm für die örtliche Autowaschstraße präsentiert wird. Dann wird es hell im Saal, die Eisverkäuferin kommt und es beginnt der Vorspann. Plötzlich merke ich, dass ich im falschen Film bin. Dies ist zwar ein durchaus vertrautes Gefühl, aber eher metaphorisch. Irgendwie hatte ich mir nicht vorstellen können, dass hier einen zweiten, noch kleineren Kinosaal für die Qualitätsfilme gibt. Vor lauter Schreck gieße ich etwas Bier über meinen Schal und meine Jacke als ich die Treppe hinauf eile. Kleines Kino, das.

Ich habe Bier, Eiskonfekt und Taschentücher, aber niemanden zum Händehalten. Sei’s drum. Der Film beginnt mit einer schrecklichen Diagnose (hier im Trailer zu sehen): Frank, Ehemann und Vater von zwei Kindern, hat einen Gehirntumor. Er wird sterben, wie naturgemäß alle Menschen sterben werden. Nur wird ihm eine Lebenserwartung von nur noch wenigen Monaten prognostiziert. Alles wird ungeschönt gezeigt: wie er es seinen Kindern sagt, der letzte Sex und die Inkontinenzwindel. Während Frank körperlich und geistig zunehmend verfällt, sind Familie und Freunde damit häufig überfordert. Traurige Momente überwiegen und es ist gut, dass ich Taschentücher eingepackt habe, denn natürlich muss ich weinen. Aber der Film hat auch immer wieder absurd-komische Szenen. Es ist ein guter Film, der zeigt, dass das Sterben gar nicht so schlimm sein muss, wenn jemand für einen da ist.

Nach dem Kino gehe ich in die Bar. Ich sitze allein an der Theke und trinke ein Glas Lebenswasser.

Upside down

Planten un Blomen, Hamburg

„Wir alle werden verrückt geboren. Manche bleiben es.“
(Samuel Beckett, Warten auf Godot)

Einen kurzen Moment mit den Gedanken abschweifen und sich plötzlich nicht mehr sicher sein, ob nun die Welt Kopf steht oder man selbst. Dann einen kurzen Moment innehalten, das Visier herunterklappen und weiterkämpfen.