Reeperbahnfestival

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Als es los geht, regnet es. Aber das ist egal, denn wir sind ja in Hamburg, also tun wir den Besuchern aus sonnigeren Gefilden den Gefallen, ihr Wettervorurteil zu bestätigen, und auf Woodstock hat es schließlich auch geregnet. Am Pressecounter gibt es große Leihregenschirme, ich will keinen, weil Regenschirme kein Rock ’n‘ Roll sind, und außerdem lassen einen die Türsteher mit den riesigen Stöcken ganz sicher nicht in die Clubs.

Im Molotow wird weniger geraucht als früher und wenn man neben dem Eingang des Kellerclubs steht, riecht es penetrant nach Klo. Der Zigarettenrauch hat das damals gut überdeckt. Ja ja, die guten alten Zeiten usw. Bald wird hier gar nicht mehr geraucht. Denn während beim Eröffnungsempfang ein Haus weiter der Bürgermeister Hand in Hand mit der Kultursenatorin bei Häppchen und perlenden Getränken aus langstieligen Gläsern den Musikstandort Hamburg in höchsten Tönen lobt, fällt das Molotow demnächst Immobilienspekulanten zum Opfer. Das ist traurig und auf die sterbende Clubszene trinke ich noch ein Festival-Bier, das die lokale Brauerei speziell zu diesem Anlass gebraut und mit einem besonders schönen Etikett versehen hat, das man leider nicht sieht, weil das Bier aus der Flasche umgehend in einen Plastikbecher umgefüllt wird. Bier aus Plastikbechern ist noch weniger Rock ’n‘ Roll als Regenschirme.

Steve Blame sagt Musik an, und ich fühle mich zurückversetzt in meine Jugend, eine internetlose Zeit, als Musikvideos noch im Fernsehen gespielt wurden. Auf der Bühne eine Band aus Düsseldorf: Stabil Elite. Der Name ist bescheuert, aber das ist egal, denn sie sind gut. Die fleischgewordene Krautrockkraftwerker bearbeiten gekonnt ihre Instrumente, alles schön bombastisch mit Moog-Synthesizern und Druck in den Bässen. „Alles, was ich anfasse, wird zu Gold“, singen sie, und tragen dabei frisch gebügelte weiße Hemden. Klar, dass sie auf der Bühne rauchen – alles, was schlecht für die Gesundheit ist, ist gut für die Attitüde. Das haben sie auf der Kunsthochschule gelernt.

Eigentlich gehe ich nicht gern auf Konzerte von Bands, die ich nicht kenne. Ich mag keine Überraschungen. Trotzdem bin ich nach dem Auftakt beschwingt. In der Meanie Bar oben spielt eine sehr junge Band. Den Jungs wächst noch nicht einmal ein Bart, nur ihr Bassist trägt ein rundum behaartes Haupt und wirkt damit ein bißchen wie ihr Musiklehrer. Auch sie rocken gut, jedenfalls viel besser als Schülerbands zu meiner Zeit. Leider habe ich keine Ahnung, wie die Kapelle heißt, denn das Programmheft ist das Unübersichtlichste. 110 Seiten bebildertes Chaos ergänzt durch eine App, die unablässig kurzfristige Programmänderungen auf mein Mobiltelefon pusht und vor überfüllten Veranstaltungsorten warnt, machen mich orientierungsloser als eine Überdosis Plastikbecherbier es könnte.

Dann kurz rüber in den Mojo Club. Es herrscht gähnende Leere in der sterilen Architektur. Die einstige Clublegende scheint im Neubau als Zombie wieder auferstanden zu sein. Viel Dancefloor, aber wenig Jazz; dafür aber Gin Tonic mit zu viel Gin, was gut gemeint, aber eben auch nicht gut ist. Nippen am Drink, Wippen zur Musik, Schmunzeln über den Bierautomaten auf dem Herrenklo. Dann schnell rüber in die benachbarte Hotellobby, Treffen mit Freunden, mehr Bier trinken, aber jetzt aus schön etikettierten Festivalflaschen. Dann mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Neugier im Nachtbus nach Hause durch das Programmheft blättern.

F wie Fail

Daniel Kehlmann – F
Daniel Kehlmann – F

Manchmal lese ich Bücher und gelegentlich schreibe ich darüber. Die meisten Bücher, die mich interessieren, erwerbe ich im Buchhandel. Hin und wieder fordere ich bei Verlagen ein Rezensionsexemplar an. Weil Verlage okay finden, dass ich über ihre Bücher schreibe, schicken sie mir dann ein solches zu. Das ist ein feiner Zug, sie müssen das nicht tun. Daniel Kehlmanns neuen Roman F wollte mir der Verlag nicht zur Verfügung stellen. „Wir haben mit Beginn dieses Jahres unsere Vergabepraxis für Rezensionsexemplare umgestellt und haben leider kein Kontingent mehr für die immer größere Bloggergemeinde“, schrieb mir die Pressedame des Verlages. Aber ich könne gern den Newsletter für Blogger abonnieren, der sei auch interessant usw. Das finde ich okay. Schließlich muss ein Verlag Bücher verkaufen und kann nicht jedem, der eine wenig beachtete Internetseite zu seinem Vergnügen und manche gar zum Zwecke der Abstaubung von Produktmustern betreibt, ein Buch seiner Wahl schenken.

Gestern erblickte ich das Druckerzeugnis meines Begehrens in der Schaufensterauslage eines modernen Antiquariats. Es kostete nur die Hälfte des regulären Verkaufspreises. Als ich es aus der Auslage entnehmen wollte, zog der Verkäufer unter Ladentheke ein weiteres Exemplar hervor. Es war noch in Plastikfolie eingeschweißt. „Journalisten versetzen hier ihre Rezensionsexemplare in Massen“, erzählte mir der Verkäufer. „Einer fand den Kehlmann okay, ein anderer scheiße und der hier hat es nicht mal ausgepackt“, so er.

Da es sich um einen offensichtlich druckfrischen Roman handelte, erkundigte ich mich augenzwinkernd nach der gesetzlichen Buchpreisbindung. Mit breitem Grinsen holte der Antiquar ein Teppichmesser hervor, öffnete die Verpackung und blätterte mit seinem Daumen durch die Seiten. „So, jetzt ist es gebraucht“, sagte er und überreichte mir das Buch. Ich werde es lesen. Besprechen werde ich es in meinem Blog nicht.

Irgendwas mit Smartphone-Romantik

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Joachim Bessing – untitled

Ich würde das Buch gern mögen, untitled von Joachim Bessing, weil ich Pop, auch als Literatur, eigentlich ja mag. Rainald Goetz hat es in seiner unnachahmlichen Art in der Zeit gelobt, so sehr, dass ich Bessing, von dem ich noch nie auch nur eine einzige gute Zeile gelesen habe, eine Chance gebe.

„Joachim Bessing hat mit untitled eine glühende Streitschrift für die Nervosität geschrieben, nicht nur für die Liebe, das auch, ein hysterisches Pamphlet für den Ernst, so durchgeknallt und eigenartig, dass ich täglich nachgucke auf Google News: wo bleiben die Hymnen, die großen Rezensionen?“, so Goetz, der naturgemäß auf Seite 233 auch zitiert wird („Oder wie Rainald Goetz, der einst in Rave geschrieben hat: Es wird ja viel zu wenig gekifft, auf Erden.“). Aber woher sollen die guten Rezensionen auch kommen, möchte man Goetz entgegenrufen!

Popliteratur ist tot

„I leaned in und sagte: Ich will jetzt sofort mit dir aufs Klo und dort weiterknutschen. Und sie sagte: Küssenderweise? Das will ich auch. Nie zuvor habe ich etwas derart Schönes, rein Gutes und meine Erwartung von Sexualität auf derart überwältigende Weise Erfüllendes erlebt wie das Tauschen von Küssen mit ihr.“

Und so geht das immer weiter, über dreihundert Seiten in Bleisatz gegossene naive Malerei. Man weiß bereits nach den ersten zwanzig Seiten nicht mehr, wie man diesen Unfug überhaupt aushalten soll. Es bestätigt sich das äußerst ungute Gefühl, dass die Popliteratur am 23. April 1975 überfahren wurde, und das nur, weil Rolf Dieter Brinkmann zu dusselig war, beim Überqueren der Straße auf den Londoner Linksverkehr zu achten.

Wenig Handlung

Es muss ja gar nicht viel passieren in einem Buch. Warum sollte eine unerfüllte Liebe, die leicht ein ganzes Menschenleben auszufüllen mag, nicht auch Stoff genug für einen Roman bieten? Man werfe Hermès, einen iPod, Martin Margiela, Nachtclubs, Werbeagenturen und Ketamin, ein paar Englische Versatzstücke sowie einige Liedzitate, ja, auch Tocotronic, in einen Topf und rührt etwas darin herum. – Fertig ist die Pop-Literatur. „Eine Art drohender Donnerkeil der Ausweglosigkeit schwebt über allem wie der überdimensionale Schatten eines Monsters in Horrorfilmen“ usw., versucht Helene Hegeman das redundant vor sich hinstotternde Geschreibsel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schönzureden. Liebesbotschaften über Liebesbotschaften sendet der Protagonist in Form von Einsen und Nullen. Und trotzdem kommt er seiner Angebeteten nicht nahe, das aber eingehüllt in allerlei Modejournalistenquatsch. London, Sidney, Paris, Berlin und immer hin und her.

Keine Form

Es muss ja gar nicht jeder Satz in einem so raffiniert durchkomponiert sein wie eine vierstimmige Bach’sche Fuge. Aber seit wann gibt es denn im Hause Kiepenheuer & Witsch kein Lektorat mehr, das sagt, wenn etwas hakt? (Oder wird da viel zu viel gekifft, in Verlagen?)

„Das iPhone vibriert in meiner rechten Hosentasche, während ich mich zwischen Pferdetransporten und Freunden des Springreitens hindurch auf den Presseeingang des Grand Palais zubewege. Der Schirm ist mir bei der Bedienung des Apparates hinderlich, ich plaziere ihn auf einem Papierkorb und gehe einfach weiter. Erin ist dran und sie zitiert scheinbar zusammenhangslos aus einem Band expressionistischer Lyrik, doch es stellt sich heraus, dass sie lediglich vorliest, was ich ich in der vergangenen Nacht per SMS zukommen ließ“, so Bessing. So etwas kann doch niemand lesen wollen.

Aber viel Kommunikation

Überhaupt spielt die Kommunikation mit dem iPhone in diesem Buch eine sehr große Rolle. Wenn es nicht so schlecht wäre, könnte man es für Apple-Schleichwerbung halten. „Die beiden ballern sich aus absurdesten Entfernungen mit SMS, Youtube-Videos, Musik und E-Mails zu. Und das wird nicht niedergeschrieben als medientheoretisch angehauchte Beispielabhandlung dessen, was moderne Kommunikation mit uns macht. Sondern als die gleiche Intensität, mit der Romeo einst vor Julias Balkon stand“, haucht Hegemann weiter sanft in der FAS.

Für die Generation der über Vierzigjährigen, zu der Autor Bessing zählt, mag der Einsatz von Smartphones zum Austausch von Säuselbotschaften auf gefühlt jeder zweiten Seite des Buches noch so besonders sein, wie uns heute im Rückblick auf Goethes Zeiten das Eintreffen der Postkutsche erscheint. Es ist ja alles so total intensiv, der Austausch mittels digitaler Medien, alles so modern und doch romantisch usw. Auch wenn sich Rezensenten auf bekannten Bewertungsplattformen um Vergleiche wie „Digitaler Romeo“ oder „Werther 2.0“ bemühen, dürfte Bessings nervig ausufernde Beschreibungen kommunikativer Selbstverständlichkeiten des 21. Jahrhunderts bei jedem Digital Native lediglich eine gelangweilte Suche nach dem Schulterzuck-Emoticon hervorrufen.

Liebe tut weh, dieses Buch auch

„[…] Was bestimmte Kritiker, die ihr Hauptaugenmerk tatsächlich nur darauf legen, dieses Buch mit dem Wort Popliteratur zu neutralisieren oder damit, dass an ein paar Stellen das Wort iPhone vorkommt, scheinbar nicht wissen. Man muss diesen Text als ernsthafte Lebensrealität lesen und aufnehmen, danach kann man immer noch aufstehen, nach Hause gehen, kognitive Neurowissenschaften studieren und so tun, als dürfe Liebe nicht weh tun“, so Helene Hegemann weiter.

Liebe tut weh. Was aber noch mehr weh tut, ist die Lektüre dieses Buches: Keine gute Geschichte zu erzählen und dieses in einer stolpernden Sprache, ist keine gute Kombination. „Die Freude am schlechten Kunstwerk kann man sich nur in der Lyrik erlauben“, sagte einst Robert Gernhardt in seinen Essener Poetik-Vorlesungen. Dieser 300-seitige Roman verschwendet Lebenszeit. „Twittert und sendet es aus, hinaus in die Welt: Joachim Bessing, untitled, Roman!“, endet Goetz seine Rezension in der Zeit. Ich möchte meinem Tweet hinzufügen: Unbegabtenpreis für Literatur 2013.

Weiße Ostern 2

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4. Advent

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche, durch des Frühlings holden, belebenden Blick. Goethe irrt, weiße Ostern, wann hat man das jemals erlebt? „Last Easter, I gave you my heart“, singt Rudolf das rotnasige Rentier, vergrippt näselnd und säckeweise gülden verpackte Schokoladenhasen im Gepäck, plötzlich mitten im kalendarischen Frühling, und Großmutter erzählt am Mittagstisch, dass sie so etwas nicht einmal in Ostpreußen erlebt habe usw.

„Als die Winter noch lang und schneereich waren“, beginnt Rainald Goetz‘ Johann Holtrop, also jetzt, denn länger und schneereicher war selten ein Winter, und während wir uns darüber beklagen und die Lenzzeit herbeisehnen, werden wir in fünfzig Jahren unseren Enkeln im Angesicht der fortgeschrittenen Klimakatastrophe beim Hasenbraten schwitzend und mit leuchtenden Augen vom harten Winter 2013 erzählen, der uns am Jahrestag der Auferstehung Christi Niederschlag aus feinen Eiskristallen bescherte. Und wie immer wird dann der Blick zurück verklärt sein und die Dinge besser erscheinen lassen als sie damals tatsächlich waren.

Zum Glück haben wir heute Nacht die Uhren auf Sommerzeit umgestellt, denke ich, während ich Kaminholz nachlege. (Wohliges Knistern und von draußen ganz leise das Geräusch von Goethes Schneeschippe.)

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Beim Veröffentlichen dieses Textes habe ich bemerkt, dass ich 2008 schon einmal einen Beitrag mit der Überschrift „Weiße Ostern“ verfasst habe. Ich glaube aber, damals hat es nicht wirklich geschneit.