Angela Richter: Assassinate Assange

Vor dem Besuch des Theaterstückes keine der vernichtenden Kritiken lesen, wie man überhaupt das Feuilleton vermeiden muss, weil es einen immerzu, mehr noch als der Politikteil, aufzuregen vermag. Kalenderwoche 39, Kampnagel, ehemalige Kranfabrik, Hamburg-Barmbek: Angela Richter ist Regisseurin und Theaterautorin. Sie interessiert sich für Julian Assange und Wikileaks. Letzteres braucht Geld, um seine Arbeit fortzuführen, zu diesem Zweck wird ein Abendessen mit Assange versteigert, Richter nimmt 1.600 Euro in die Hand und trifft ihn, auch danach noch mehrere Male.

Hunderte von Interviewfragen, hunderte von Antworten, Protokolle, Briefe, Dokumente, all diese fließen hinein in das Theaterstück. Realität und Fiktion vermischen sich, dass einem schwindelig wird. Collage. Drei Aspekte: Die Enthüllungen auf Wikileaks, der Starkult um die Person Assange, die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Assange. Alles spielt hier irgendwie eine Rolle, alles wird vermengt, alles bleibt unklar. Zum Schluss berichtet Assange von seinem Traum, in dem Saddam Husseins Gehirn in seine, Assanges, Gebärmutter transplantiert wird.

Nach der Aufführung treffe ich Malakoff Kowalski, der die dargestellte Wirrness mit wunderbarer Musik begleitete. Er fragt mich, wie ich es fand, ich bin ratlos, wir trinken ein Bier. Es bleiben Fragen, aber keine Antworten. „Theater ist kein Dokumentarfilm“, sage ich. Dann trinken wir noch ein Bier.

Generation Generationsbuchautor

Kunstwerk der Generation Readymade.

Jeder lebt in seiner eigenen Welt,
aber meine ist die richtige.
(Lassie Singers)

Wir. Wir fahren ein bestimmtes Automodell. Wir sind Männer mit zu vielen Gefühlen oder Frauen mit zu wenigen. Wir sind überfordert mit unseren Jobs. Wir sind irgendwie anders als die anderen. Wir machen Praktika. Wir schenken unsere Aufmerksamkeit nur noch unseren Smartphones. Wir arbeiten in Agenturen oder Redaktionen. Wir werden es einmal schlechter haben als unsere Eltern. Wir lieben uns, aber nicht mehr einander. Wir sind das Prekariat. Wir sind blutwurstmögende Vegetarier. Wir sind Journalisten. Wir sind Inkludisten. Wir umarmen alle. Wir sind wir. Wir kommen nicht mehr dazu, unser Leben zu leben, weil wir ständig damit beschäftigt sind, das Verhalten unserer Altersgenossen in neue Generationsbücher zu verpacken. Anschließend touren wir durch die allabendlichen Talkshows der Republik und verkaufen die Mär vom X, dem Golf, dem Internet oder dem Schmerzensmann. Werden wir kritisch dazu befragt, ob wir den von uns ersonnenen Generationsbegriff nicht vielleicht doch zu weit gefasst haben, verweisen wir auf ein naturgemäß einleuchtendes Einzelschicksal aus dem von uns verfassten Buch. Denn wenn wir es dort geschrieben haben, dann muss es ja stimmen undsoweiter. Wir sind die Generation Einzelschicksal. Dabei wollen wir eigentlich nur eines sein: die Generation Generationsbuchautor.

Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben

Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben

Keiner fühlte sich wie die anderen. Die Menschen sind
doch immer zu dick, zu dünn, sie sind taub oder blind,
Contergan-Opfer, die Eltern geschieden oder Trinker oder zu
spießig, sie sind homosexuell oder sexsüchtig oder asexuell,
zu groß, zu klein, sie haben Autismus oder Epilepsie,
Herzprobleme,Schweißfüße, einen Buckel, Akne, keiner
entspricht der Norm, und selbst aus Metall gestanzte Figuren
wie Bankangestellte oder Versicherungsmitarbeiter, Anwälte
und Mitarbeiter diverser Aufsichtsräte leiden unter Blasenschwäche.
Als Teil der Welt, die doch allen gleichermaßen gehört, fühlt sich keiner.

(Sibylle Berg, „Vielen Dank für das Leben“)

Eine Sado-Maso-Schmonzette, einen Tageszeitungs-Herausgeber-Mord-Schweden-Krimi, eine Präsidenten-Gattin-Regenbogen-Biographie und ein auf Papier gedrucktes Piratinnen-Machwerk über Sex mit Pferden. Es ist nicht schön, Feuilletonist zu sein, dieser Tage. Was man alles lesen muss: ein kakophonischer Kanon.

Und dann kommt da „Vielen Dank für das Leben“ von Frau Berg. Wir kennen sie seit langem und wissen, dass wir naturgemäß von ihrem Werk an grauen Herbsttagen keine Stimmungsaufhellung erwarten dürfen, aber das wollen wir auch gar nicht, denn schließlich steht Frau Berg nicht umsonst in unserem Bücherregal neben Thomas Bernhard.

Die Hauptfigur des Romans heißt Toto, ist ungewollt und wächst in einem Kinderheim in einem östlichen Land auf. Toto ist weder Junge noch Mädchen und das ist ihm egal, aber seiner Umwelt nicht. Sein Leben lang bekommt er auf die Fresse, weil er anders ist als die anderen. Toto ist  gleichmütig. Um ihn herum ist alles schlimm. Menschen schlimm, Politik schlimm, Wirtschaft schlimm, Kunst schlimm. Manchmal singt Toto mit seiner viel zu hohen Stimme ein Lied und die Menschen lachen darüber. Alles, was es auf der Welt gibt, spielt ihr übel mit. Toto hingegen ist gut. Toto ist keine Heldin, bewältigt trotz der allergrößten Naivität irgendwie das Leben und glaubt, dass alles vielleicht noch gut werden könne, was es aber niemals wird. Alles ist schwarz-weiß, aber eben meistens doch schwarz.

Frau Berg kann schreiben, oh ja, das kann sie. Wir sollten es lesen. Vielen Dank für das Buch.

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Wolfgang Tischer vom Literaturcafé spricht mit Sibylle Berg: hier.

Herbst ist okay

Und während wir hier gescheit daher reden, werden draußen
die Tage immer kürzer. Schon neigt sich das Jahr in den Herbst,
der bringt den güldenen Oktober, Lexicon of Love, Melancholie,
die Heiterkeit und einen Wohlgeruch.

(Rainald Goetz, Irre)

Herbst ist okay, sagen wir. Und dann denken wir an den Oktober gülden, mit seinen Blättern gelb und braun und Figürchen, gebastelt aus Kastanien, und heißen Tee und Abenden am Kamin und zweisamen Spaziergängen und all den Rilkescheiß, den der Dichter uns einst ach so erfolgreich in unsere Gehirne gepflanzt hat. Doch dann gehen wir vor die Tür und sehen das Grau allüberall und spüren den Regen, der ganz gemein so unablässig vor sich hinnieselt und vom Wind, der noch kein Sturm ist, in unsere Augen geweht wird. Dann wünschen wir uns einen letzten Sommertag, obschon es erst wenige Tage her ist, dass wir auch den Sommer verfluchten, weil die Menschen in den U-Bahnen immerzu nach Schweiß stanken.

Spärlich geschützt vor den unwirtlichen letzten Septembertagen sitzt auf dem Treppenabsatz unter einem kleinen Dachvorsprung des Museums für Kunst und Gewerbe, direkt neben dem Hauptbahnhof, ein junges Mädchen. Sie ist zu leicht bekleidet und zittert. Fahrig und routiniert zugleich schiebt sie sich den linken Ärmel hoch und führt die Nadel der Spritze in ihre Vene ein. Ich kann nicht hinsehen, wie sie sich selbst zugrunde richtet, und doch wäre ich gern stehengeblieben, um zu beobachten, ob sie, wenn sie nur all den Stoff in sich hineinpumpt, sodann, wie man es immer wieder gelesen hat, eine wohlige Wärme durchfährt, die naturgemäß auch nur von kurzer Dauer sein kann; wie alles, was uns glücklich macht, immer nur von kurzer Dauer sein kann. Protect us from what we want, und im Strom der Menschen ziehe ich vorbei. H-I-L-F-(E)!

Und dann immer wieder dieselbe, die Jahreszeit beherrschende Frage: Was man alles aus Kürbis machen kann? Da stehen sie nun diese Monster, hilflos in Euren Designerküchen, mitgeliefert in der wöchentlichen Gemüsekiste, obwohl der Kürbis rein botanisch gesehen, klar, eine Frucht ist. Für eine reine Halloweenausweidung zu schade, also wochenlang Kürbissuppe, Risotto, Salat, Auflauf, Marmelade, Muffins usw. in sich hineinschaufeln. Bis zum Abwinken immerzu Kürbis und irgendwann ist man froh, wenn das alles ein Ende hat und in der nächsten Saison geht dann wieder alles von vorne los.

Zuhause angekommen das Thermometer unter die Zunge legen und abwarten. Wie schon im vergangenen Jahr, eine leichte Untertemperatur feststellen und weil sie, die sonst eine Wärmflasche machte und Tee kochte, längst nicht mehr da ist, sich nach Fieber sehnen und nach etwas Goldenem, einem Oktober oder einen Schuss.