SPD-Bundesparteitag: Tag 2

Historisches Wahlgerät

# Parteichef Sigmar Gabriel spricht. Das kann er. Wenn er, so Gabriel, vor zwanzig Jahren in einen Betrieb gegangen sei, dann war er „einer von ihnen“. Heute sei er bloß irgendein beliebiger Politiker. Ich dachte immer, Gabriel war früher Lehrer. Frage mich, wann er mal einen Betrieb besucht hat. Und was hat er dann dort gemacht? Gabriel widerspricht Helmut Schmidt: Wer Visionen habe, solle nicht zum Arzt gehen, sondern zur SPD. Aha. Gabriel macht sich für den Mindestlohn stark. Ottmar Schreiner wird groß auf der Leinwand eingeblendet. Er guckt. Gabriel redet sich in Rage. Von Kanzlerkandidatur bis Alzheimerforschung wird kein Thema ausgelassen. Mache mir Sorgen um seinen Blutdruck. Anschließend knapp fünf Minuten Standing Ovations. Sigmar kann Trümmermann.

# Wahl des Parteivorsitzenden. Abgestimmt wird mittels elektronischem Eingabegerät. Nur eine ungültige Stimme. Technisches Verständnis scheint unter den Delegierten grundsätzlich vorhanden. Das macht Hoffnung für die Abstimmungen zur Netzpolitik und Vorratsdatenspeicherung.

# Trendic Topics auf Twitter: „Sigmar Gabriel“ und „Gute Besserung“.

# Sigmar Gabriel wird mit knapp 92 % der Stimmen zum Parteivorsitzenden wiedergewählt. Er nimmt die Wahl an und erhält einen Strauß Blumen.

# Wahl der stellvertretenden Parteivorsitzenden. Lauter Gewinnerinnen und Gewinner mit Blumensträußen.

# Schatzmeisterin gewählt, Verantwortlicher für die Europäische Union gewählt. Blumen über Blumen. Alle sind glücklich und zufrieden. Möglicherweise verfolgt der Vorsitzende des Winzerverbandes das Geschehen mit einem weinenden Auge.

# Björn Böhning spricht über die Digitalisierung der Welt. Zahlreiche Delegierte verlassen den Saal. Auch Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach strebt Richtung Ausgang und hält derweil sein Mobiltelefon ans Ohr. Hoffentlich strahlt es nicht schädlich. Buzzwords: Prekäre Arbeitsverhältnisse und digitale Daseinsvorsorge.

# Mathias Richel spricht: 1995 war die SPD mit dem digitalen Ortsverein ganz weit vorn. Das ist lange her. Dafür wird die netzpolitische Grundsatzerklärung einstimmig angenommen.

# Was viele Sprecher brauchen: einen Logopäden. Verstehe immerzu „liebe Sozialdemokraten und Sozialdemokraten“. Ist aber vielleicht auch richtig verstanden und die SPD ist schon längst Post-Gender.

# Generalsekretärin Andrea Nahles bewirbt sich mit Dachdeckermetaphern um Wiederwahl. Mögliche Copy, falls ein Plakat gedruckt werden soll: Andrea klagt. Große Yachten und badengehende Kommunen. Sie krächzt. Huch, schon vorbei. Abstimmung, Sieg, Annahme, wieder Blumen.

# Welche Lobbyorganisation keinen Messestand auf dem Parteitag nötig hat: der Verband der Blumenzüchter.

Sozialdemokratisches Catering in der Presse-Lounge

# Vom Podium aus wird ein Gast, dessen Namen niemand verstanden hat oder den niemand kennt, begrüßt. Der Applaus fällt erwartungsgemäß verhalten aus. Bin erleichtert, dass dem Unbekannten niemand Blumen überreicht.

# Noch 26 Beisitzer zum Vorstand sind zu wählen. Die Kurse an den internationalen Blumenbörsen in Athen (weiße Rosen) und Amsterdam (Tulpen) explodieren.

# Juso-Vorsitzender Sascha Vogt zieht seine Kandidatur zum Vorstand zurück, da ihm die  nötige Unterstützung der Delegierten fehlt. Er verspricht, die Anliegen der jungen Generation dennoch angemessen zu vertreten. Auch ohne Floristik.

# Jetzt geht es um Familienpolitik. Ein Delegierter aus Sachsen ergreift das Wort: „Sächsisch-Deutsch gibt es auf Kanal 2.“ Verstehe leider nicht, was er sagt, habe keinen Übersetzungskopfhörer. Die familienpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion erinnert daran, dass die SPD war, die einst die Familienpolitik aus dem Dornröschenschlaf erweckte. Muss an Gedöns denken.

# Nur 17 Beisitzer für den Vorstand im ersten Durchgang gewählt. Alle anderen Kandidaten vorerst gescheitert. Sigmar Gabriel macht klar, dass jeder Landesverband im Vorstand vertreten sein soll. Der Parteitag wird eine halbe Stunde unterbrochen. Hinter den Kulissen wird hektisch nach Blumenvasen gesucht.

# Andrea Nahles gibt bekannt, dass mindestens noch drei Frauen in den Vorstand gewählt werden müssen. Bin beruhigt, dass noch keine Quote für Kandidaten mit purpurner Oberbekleidung beschlossen wurde.

# DFB-Präsident Theo Zwanziger spricht zum Thema Heteronormativität. Ach nee, zum Thema Integration von Migranten.

# Änderungsanträge zu Änderungsanträgen von Änderungsanträgen. Gefühlt jedenfalls. Sigmar Gabriel verlässt den Saal, dicht gefolgt von drei Herren mit der dezenten Namensschildaufschrift „BKA“.

# Schon lange wurden keine dekorativen Blüten mehr übergeben. Vermisse dieses Ritual bereits ein wenig.

# Hannelore Kraft beschließt ihre Rede mit „Glück auf!“ Wann wird eigentlich gesungen?

# Vorstandswahlen sind durch: Frauen und Männer mit und ohne Migrationshintergrund aller Landesverbände vom linken und rechten Parteiflügel sind zufrieden. Besonders die mit pupurnen Kleidungsstücken. Obacht: gewählte Beisitzer erhalten keinen Blumenstrauß. Schatzmeisterin verwirft sogleich den Vorschlag, den Verkauf der parteieigenen Druckereien und Verlagshäuser zugunsten der Finanzierung einer Gärtnerei.

# Kurt Beck spricht über irgendwas. Ich kann nicht mehr. Es geht um Gerechtigkeit und Dachdecker. Er scheint gar nicht mehr aufhören zu wollen, dabei steht er hier gar nicht zur Wahl. Bei den Piraten durfte ja jeder nur eine Minute reden. Allerdings durfte da jeder reden. Das will man auch nicht.

# 19 Uhr: Die Erneuerbare-Energien-Lobby schenkt wieder Wein aus. Die Erfahrung vom Vortag zeigt, dass man sich ranhalten sollte, bevor er wieder aus ist.

# Ottmar Schreiner rockt. Es geht um den Wert von Arbeit. Alle sind ein bißchen froh, dass er nicht zur Linkspartei übergelaufen ist.

# Olaf Scholz spricht noch einmal für Antragskommission. Der Scholzomat ist geschmeidig geworden. Für seine Verhältnisse jedenfalls. Trotzdem könnte er nun gern zum Ende kommen.

# Alles Mögliche wird an irgendeine Kommission überwiesen. Die kümmert sich dann. Hoffentlich wird alles gut. Tag 2 fertig.

SPD-Bundesparteitag 2011: Tag 1

Helmut Schmidt: Erst spricht er, dann raucht er.

# 10 Uhr,  großes Gewusel, Delegierte, Gäste und Journalisten drängen in den Saal. Ich treffe den Erfinder des Purpur. Er versucht, mich für die „frische, starke Zusatzfarbe“ der Partei zu begeistern; ich bin skeptisch.

# Parteichef Sigmar Gabriel richtet ein Grußwort an die Anwesenden. Das WLAN funktioniert nicht und Netzwerkkabel gibt es nur an jedem zweiten Arbeitsplatz. Ich bin offline. Gabriel setzt zur großen Lobhudelei auf Helmut Schmidt an. Der Blogger neben mir klatscht ein bißchen zu begeistert, hat aber auch Internet.

# Helmut Schmidt hat mit seiner Loki kurz nach dem Krieg nicht nur auf dem Boden kniend Wahlplakate für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands gemalt, sondern kann auch im hohen Alter, vermutlich aus dem Stegreif, eine Vorlesung in Europäischer Geschichte und Volkswirtschaftslehre halten. Man könnte eine Stecknadel fallen hören, hört aber lediglich vereinzeltes Handy-Geklingel mit anschließendem Gezische. Es geht um Europa, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität etc. Eine große Grundsatzrede. Anschließend zehn Minuten stehende Ovationen und eine Zigarette für den Altkanzler. Als Schmidt noch Kanzler war, hat die Partei ihn nicht geliebt, heute ist er ihr Orakel. Was sagt das über die SPD aus?

# Wie sie alle dastehen, die Delegierten, mit ihren schlecht sitzenden Anzügen. Sie erinnern mehr an die Vertriebstagung eines Strukturvertriebs.

# NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft sagt: „Lieber Helmut Schmidt, Du hast uns wieder Richtung gegeben.“ Helmut Schmidt ist kein Orakel, in diesem Moment ist er Gott. Ich schäme mich ein bißchen fremd für die Partei. Anschließend ausufernde Grüße an diese und jene mit anschließender Verlesung der Namen von verstorbenen Parteimitgliedern. Dann die kürzeste Schweigeminute aller Zeiten und die Forderung nach Regulierung von diesem und jenem. Jedoch nicht nach der Regulierung der Länge von Schweigeminuten.

# Norwegens Ministerpräsident Jens Stoltenberg spricht über Demokratie etc. Das macht er gut.

# In der Mittagspause gibt es Hot Dogs für drei Euro und Mineralwasser für 3,50 Euro. Ist das sozialdemokratisch? Dafür verteilt ein gutgelaunter promovierter Mitarbeiter eines Atomkonzerns gratis Speiseeis. Überhaupt finden sich im Vorraum unzählige Messestände von Lobbyisten: Auto, Versicherung, Pharma, Tabak, Telekommunikation und Energie. Kaum eine Branche fehlt.

# Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz spricht über Gerechtigkeit. Niemanden scheint das zu interessieren. Die Unruhe im Saal ist die größte.

# Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier ist heiser. Er freut sich, dass die Teilnehmer des Bundesparteitages am 2. Advent auch nichts besseres vorhatten. Auch er spricht über Europa und macht das viel besser als noch vor wenigen Jahren. Seine Lieblingswendung: „Ich will gar nicht darüber reden, dass …“ Und redet dann doch immerzu davon. Seine Heiserkeit nimmt weiter zu. Nach fast einer Stunde kommt er endlich zum Schluss. Es gibt ordentlichen Applaus.

# „Helmut Schmidt“ ist mittlerweile Trendic Topic auf Twitter. Aber auch „Thomas Gottschalk“. Über Personalfragen entscheidet der Parteitag jedoch erst am Montag.

# Ein Vertreter der SPD-Senioren spricht über die Regulierung der Finanzmärkte. Eine Frau aus dem Zuschauerbereich springt währenddessen als einzige mehrfach von ihrem Platz auf, nickt heftig und klatscht euphorisch – die Hände über ihrem Kopf. Ansonsten herrscht routiniertes Desinteresse.

# Hans Eichel lobt schweizer Zentralbank. Euphorische Klatscherin klatscht noch immer. Sie verdreht ihre Augen extatisch. Es ist sehr heiß im Saal. Erwarte jeden Moment einen Regentanz von ihr.

# Vorbereitung auf Rot-Grün: In der „Halle für alle“ sitzen zwei Sozialdemokratinnen und stricken eifrig.

# 400 Änderungsanträge zum Organisationspolitischen Grundsatzprogramm. Man möchte kein Delegierter sein. Jetzt ganz besonders nicht. Am Stand der Erneuerbare-Energie-Lobby wird Wein ausgeschenkt. Ein paar abgehalfterte Parteigranden erfreuen sich an ihm.

# Dieses und jenes.

# Was man auch nicht mehr hören kann: „Genossinnen und Genossen“. Was man nicht mehr sehen mag: Purpur. Vor dem Hintergrund der Nuancen zwischen Rot und Violett wirken die Redner wie vor einem Bluescreen. Irgendwie hilflos, unvollständig, hineinmontiert.

# Auf dem Podium beglückt uns ein Sprecher mit der Wendung „politische Masturbation“. Die Gebärdenspracheübersetzung ist eindeutig.

# Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck spricht sich für die Erhaltung der Schöpfung aus. Der Saal leert sich derweil. Das Personal am Erneurbare-Energie-Stand gibt bekannt, dass die Genossen den für drei Tage eingeplanten Weinvorrat bereits am ersten Abend vollständig geleert haben.

# 22.30 Uhr: Abstimmung über Lärmschutz. Der Redner beklagt die Aufhebung des Nachtflugverbots über Frankfurt. Während die Delegierten dazu verdammt sind, tapfer auszuharren, ist ein Großteil der Besucher bereits auf dem Heimflug.

# 23 Uhr. Ende. Uff.

Mischbrot

Dienstag nach dem Feiertag. Morgens beim Bäcker vor mir zwei asiatische Touristen. Offenkundig fehlt ihnen zur Artikulation ihres Bestellwunsches das erforderliche Backwarenfachvokabular. Hilflos zeigen sie auf Schrippen, Croissants etc. Es sind heute einmal nicht die Reisenden, die nerven, sondern es ist die unnötige Pampigkeit der Bäckereifachverkäuferin, die ratlos mit den Schultern zuckt und hektisch mit ihren Händen herumfuchtelt. Ich blicke auf ihre Fingernägel und frage mich, warum es bei all dem Regulierungswahn in diesem Lande noch kein Verbot für aufgeklebte Kunstnägel mit Glitzersteinchen gibt, und je länger ich warte, desto mehr vergeht mir der Appetit. Als ich an der Reihe bin, sage ich nur „Mischbrot“, und lege das Geld passend abgezählt auf die Verkaufstheke. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt fühlt sich der Dienstag wie ein Montag an.

Lichtenberg

Berlin-Lichtenberg

Berlin-Lichtenberg

Berlin-Lichtenberg

Berlin-Lichtenberg.