Man kann nicht immer nur spazierengehen. Manchmal muss man auch hinaus auf die hohe See. Am besten auf einem Ausflugsdampfer. Wer einmal eine Reise auf Adler Mönchgut tat, der weiß, dass einen nicht nur das milde Reizklima an der Ostsee, sondern auch „Lieder so schön wie das Morden“, in denen unablässig die Pracht der mecklenburgischen Insellandschaft besungen wird, abhärten können.
Auch die anderen Fahrgäste hatten ihre Freude auf dem Ausflugsdampfer.
Vom Schiff aus hat man einen herrlichen Blick auf die berühmten Kreidefelsen und einen noch herrlicheren Ausblick auf die Mitreisenden, welche auch hier bevorzugt im Partnerlook anzutreffen sind. Außerdem bringt so eine Ausfahrt nicht nur Abhärtung, sondern auch Sicherheit: Caspar David Friedrichs Lieblingskreidefelsen sind längst im Meer versunken. Sie sind jedoch nicht unter der Last der spazierengehenden Touristen zusammengebrochen, wie der Anblick des obigen Herren vielleicht vermuten ließe, sondern werden nach und nach von extremen Niederschlägen dahingerafft.
Bevor das dem Untergang geweihte Eiland allerdings komplett versinkt, sollte man noch einmal Herrn Boys Ratschlag folgen und in den Binzer Bierstuben Fisch essen. Diese Erinnerungen wird mir niemand nehmen können, auch wenn sich das Meer die Insel längst zurückgeholt hat.
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Weitere Folgen meines Reiseberichtes finden sich hier.
Binz ist der wahrgewordene Aufbau Ost. In weiße Farbe getauchte Strandvillen versprühen hier noch immer den Badeortcharme vergangener Jahrhunderte. Einzig der Ortsteil Prora vermag die Ostseeidylle zu stören. Prora, allein schon dieser Name. Sozialistisch klingt er irgendwie, wenn nicht sogar nationalsozialistisch. Dabei handelt es sich tatsächlich gar nicht um die Wortneuschöpfung eines diktatorischen Regimes, sondern ganz harmlos um die Bezeichnung der umgebenden Landschaft.
Bekannt ist Prora vor allem für eine gespenstische Ruine, die auch „der Koloss von Prora“ genannt wird: eine 4,5 km lange Gebäudekette mit sechs Stockwerken, welche die Köpfe der nationalsozialistischen Freizeitorganisation „Kraft durch Freude (KdF)“ ersannen. Vom Strand aus betrachtet ist die größte bauliche Hinterlassenschaft des „Dritten Reiches“ von Bäumen verdeckt und wirkt unscheinbarer, als man es sich der Beschreibung nach vielleicht vorstellt. Dennoch geht von diesem Gebäude etwas Bedrückendes aus, sodass nicht einmal die wohlwollende Tourismuszentrale es wagte, Prora als Ortsteil mit „sprödem Charme“ anzupreisen.
Im „Seebad der Zwanzigtausend“ sollten 20.000 Menschen gleichzeitig für einen geringen Preis jeweils zwei Wochen in Zimmern von 2,5 mal 5 Metern Größe mit Seeblick Urlaub machen. Nachdem das NS-Regime die Organisationen und Parteien der Arbeiter 1933 zerschlagen hatte, versuchte es, die Arbeiterklasse für seine Kriegs-, Lebensraum- und Rassenpolitik einzunehmen. KdF-Führer Robert Ley hatte also weniger die Erholung im Blick als Gleichschaltung und Kontrolle. Die Tagesabläufe der Urlauber sollten streng geregelt werden: von der gemeinsamen Einnahme der Mahlzeiten über organisierte Schwimmkurse und Leibesertüchtigung bis hin zum uniformen Strohhut für die Damen wollten die Nationalsozialisten nichts der individuellen Gestaltung des Urlaubers überlassen. Zur Bekanntgabe der Uhrzeiten der jeweiligen Aktivitäten war die Anbringung von Lautsprechern in allen Zimmern geplant.
Am zweiten Tag schneit es noch immer, sogar noch mehr als gestern. „Das ewige Auf- und Ablaufen am Strand macht einen nur irre“, sage ich zu Madame. Konsequent beschließen wir also, auch einmal im Kreise zu gehen, am besten gleich organisiert. Wir überwinden uns, an einem Rundgang durch Binz teilzunehmen. Wenn schon konsequent, dann richtig: Treffpunkt 10 Uhr morgens, Kurverwaltung, die Frisur sitzt. Vor dem „Haus des Gastes“, das neben der örtlichen Kurverwaltung nach Auskunft der eigenen Internetseite auch „einen Bollerwagenverleih, einen öffentlichen Münzfernsprecher und einen Briefkasten für Urlaubspost“ bietet, hat sich bereits eine mittelgroße Rentnertraube gebildet, die ungeduldig auf den Führer (Darf man das so schreiben? Egal; Anm. d. Red.) wartet.
Durch den Ort leitet uns fachkundig Herr Boy. „Boy wie der englische Junge“, stellt sich der ältere Herr mit weißem Seemannsbart schenkelklopfend vor. Die Rentner lachen; Herr Boy teilt mit, dass er gern und besonders gern lang spricht. Ich beginne bereits, meine Konsequenz zu bereuen, und gehe in Gedanken den Strand auf und ab. Herr Boy macht seine Arbeit sehr gewissenhaft. Der Schneefall hat etwas zugenommen, und die ersten violett schimmernden Rentnerinnendauerwellen sind bereits unter der Last der Schneemassen zusammengebrochen.
Es ist Ende März. Gemäß den Prophezeiungen des Hundertjährigen Kalenders müssten zu dieser Jahreszeit ein paar Sonnenstrahlen auf der Erde eintreffen, aber es schneit, als wir die Insel erreichen. Madame und ich erleben schon im Alltag genug, also haben wir uns vier Tage Erholungsurlaub im beschaulichen Ostseebad Binz auf Rügen genehmigt.
Die Anreise mit der Bahn verläuft wider Erwarten komplikationslos, und der Weg vom Bahnhof zum Hotel Nymphe erweist sich als kurz. Das ist gut, denn ich habe vergessen, den hoteleigenen Fahrdienst von unserer Ankunftszeit in Kenntnis zu setzen. Vor dem Haus, das für die folgenden Tage unsere Herberge sein soll, steht ein Schild. Darauf steht geschrieben: „Heiter den Alltag abstreifen – mit Lust auf Meer“. Das wollen wir tun, denke ich, wenngleich ich dafür wohl andere Worte gewählt hätte. Später erfahre ich, dass das erst vor wenigen Tagen eröffnete Hotel von einer sogenannten Projektentwicklungsgesellschaft errichtet und schlüsselfertig an die jetztige Betreiberfirma übergeben wurde. Den Slogan hat sich vermutlich der leitende Bauingeniuer, quasi als kreativen Ausgleich zu statischen Berechnungen, erdacht, um sich unsterblich zu machen. Während ich damit beginne, heiter den Alltag abzustreifen, stelle ich fest, dass sich in der Übernachtungsstätte mehr tätige Handwerker als Gäste aufhalten. Erstere haben ihre natürliche Neigung zum morgendlichen Frühbohren, -hämmern und meißeln allerdings erstaunlich gut im Griff, wie sich an den nächsten Tagen herausstellen soll. Vermutlich hat der Ingenieuer auch hierfür einen besänftigenden Spruch im Repertoire, z. B. „Heiter bohren – noch schöner am Nachmittag“.
Unser Zimmer ist geschmackvoll in gedämpften Farbtönen eingerichtet. Die gebuchte Meerseite macht sich allerdings lediglich beim Blick aus einem 40 Zentimeter schmalen Fenster bemerkbar. Das ist nicht so schlecht für ein Haus, das in der zweiten Reihe steht, denke ich, während ich darüber sinniere, ob diese Tatsache auch im Prospekt erwähnt wurde. Meine urlaubsbedingte Grundheiterkeit vermag diese Tatsache allerdings nicht zu trüben: Mein Fenster zur Welt verfügt über eine Diagonale von 24 Zoll und ist ein Apple iMac samt Zugang ins weltweite Netz, der zur Standardausstattung der Zimmer gehört. Manchmal kann es so einfach sein, mich ein bisschen glücklich zu machen. Dass Madame und ich nicht die ersten Gäste in diesem Raume sind, wird mir beim Einschalten des Rechners klar: Das Vorbewohnerpärchen hat uns ein mit der in den Computer integrierten Kamera aufgenommenes Selbstportrait in eindeutiger Pose hinterlassen. Dass der Mann auf dem Bild sein entblößtes Genital in der Hand hatte, brauchte ich der jungen Dame an der Rezeption so detailliert nicht zu schildern. Mein dezenter Hinweis darauf, dass sicher nicht alle Gäste im Umgang mit der modernen Technik vertraut seien und wir „delikates Bildmaterial“ vorgefunden hätten, reichte aus, um dem Empfangsfräulein einen Satz rote Ohren zu bescheren.
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