West-Berlin

Über den Dächern Berlins, Hotel Sylter Hof

Kurz innehalten und den Blick schweifen lassen, ein paar Sekunden. Wie häßlich dieses West-Berlin doch ist. Ein absurder Gedanke an George Clooney, wie er in The American mit der größten Präzision sein Gewehr zusammenschraubt. Der Gedanke verflüchtigt sich, als ich im Haus gegenüber eine Frau erkenne. Das Kissen auf ihrer Fensterbank dient ihr als Stütze, sie starrt ins Leere. Noch in den sechziger Jahren war das Ausdemfensterschauen eine der liebsten Freitzeitbeschäftigungen der Deutschen. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein.

„Und?“, fragt mich die Hotelmanagerin erwartungsvoll. „Landschaftlich wunderschön.“

Hotel Hotel

Kitschverkauf im maritim proArte Hotel Berlin

Sehr geehrte Frau Hotelierin,
sehr geehrter Herr Hotelier,

falls auch Sie vorzuhaben gedenken, Ihre Räumlichkeiten künftig verstärkt für Tagungen feilzubieten, berücksichtigen bitte folgende Punkte:

  1. Zerkochen Sie den Brokkoli nicht und servieren Sie ihn möglichst warm.
  2. Sorgen Sie im Konferenzbereich für funktionierendes kostenloses WLAN und eine ausreichende Anzahl an Steckdosenplätzen.
  3. Verkaufen Sie keinen Kitsch in Vitrinen. (Dies ist von besonderer Bedeutung, wenn Sie Ihr Haus als „Designhotel“ zu kategorisieren pflegen.)

Für Ihre Bemühungen danke ich Ihnen und verbleibe

mit freundlichen Grüßen

Ihr bosch

 

eEtiquette – 101 Leitlinien für die digitale Welt

Der Trend zur Handarbeit scheint ungebrochen: Nach Stricken und Nähen wird nun gestickt. Aber nicht nur Handarbeit ist wieder schwer im Kommen, sondern auch gutes Benehmen ist wieder gefragt. Eine Denkabteilung der Telekom hat sich gemeinsam mit anderen klugen Köpfen Gedanken über das Miteinander in der digitalen Welt gemacht. Herausgekommen sind dabei 101 Leitlinien in Kreuzstichanmutung.

Während im richtigen Leben der Allgemeine Deutsche Tanzlehrerverband (ADTV) die Hoheit über geltende Benimmregeln hat, lud gestern der Magentariese zum Höflichkeit-2.0-Dinner ins Restaurant Dos Pallilios des Hotels Casa Camper in Berlin, um mit Journalisten und Bloggern über die Ergebnisse des Nachdenkens zu diskutieren.

Es war natürlich sehr heiß, wie immer in diesen Tagen, und das erste Etiketteproblem ergab sich bereits bei der korrekten Form der Entledigung der uns zur Kühlung gereichten, in kaltem Wasser getränkten Waschlappen.

Vor uns papierene Tischdecken, bedruckt mit Teller, Messer, Gabel, Glas, Serviette etc. Daneben Aufkleber mit den Logos der gängigen Sozialen Netzwerke: Twitter, Facebook, XING etc. In etwas komplizierten Worten wurden wir aufgefordert, Analogien aus dem Alltag zu bilden: Ist Facebook meine Gabel? Ist Twitter mein Teller? Manch einer wird sich nach dieser Eröffnung zurecht gefragt haben: Häh? Sollte es doch bei diesem Abend darum gehen, ob man Kontaktanfragen auf Facebook einfach ablehnen darf, oder wie lange man in einem Café das kostenlose WLAN nutzen darf, ohne etwas zu bestellen.

Es folgten 18 Gänge asiatischer Speisen, darunter so Abenteuerliches wie Kimchi mit Qualle oder Schweinekinn kantonesischer Art. Die meisten Speisen waren ein Genuss, die anderen zumindest interessant, dazwischen immer wieder ein paar kurze Ansprachen, u. a. von einer Dame der Knigge-Gesellschaft, von der mir inhaltlich nicht viel in Erinnerung geblieben ist. Trotz gepflegter Konversationen mit den Tischnachbarn über das Für und Wider der aufgestellten Benimmregeln, blieb die große Diskussion aus.

Während über die meisten der vorgestellten Regeln sicherlich ein breiter Konsens herrscht (zeitnah auf E-Mails antworten, beim ersten Kontakt die korrekte Anrede und Grußformel verwenden usw.), und auch einige Regeln das Werk künstlich aufblasen (im Büro auf die Lautstärke des Tippgeräusches achten), gibt es unter den 101 Regeln aber auch zahlreiche Punkte, über die man hätte diskutieren können, z. B.:

  • Nr. 37: „Wikipedia löst nicht alle Meinungsverschiedenheiten. Verwende es in Maßen.“ Jens Best, der bereits unter vielen Regeln eine Diskussion angestoßen hat, weist hier in den Kommentaren vollkommen zurecht darauf hin, dass hier der aktive Gestaltungsauftrag, nämlich sich selbst an der Verbesserung der Wikipedia zu beteiligen, vollkommen vernachlässigt wird.
  • Nr. 53: „Setze Foto-Tags behutsam – im Zweifel lieber keine.“ Hier wird nicht berücksichtigt, dass das Verschlagworten eine der Grundideen des Social Webs ist, sondern wieder (zu) stark auf Privatsphärediskussionen abgestellt.
  • Nr. 61: „Blocke andere gleich, statt eine ungewollte Freundschaft später rückgängig zu machen.“ Hier stellt sich schon die Frage, ob man nicht zwischen der Ablehnung einer Kontaktanfrage und dem radikaleren Schritt des Blockens differenzieren sollte.

Insgesamt ist mir aufgefallen, dass viele der aufgestellten Regeln eher negativ formuliert sind und auf das Unterlassen abzielen (Taggen von Fotos, Verwendung von Wikipedia), anstatt im Netz zur aktiven Gestaltung aufzufordern. Auch sind viele – an sich berechtigte Punkte – missverständlich formuliert (z. B. Nr. 11Nr. 33, Nr. 34). 101 Regeln sind meiner Meinung nach auch zu viele, das Regelwerk hätte durchaus etwas kompakter auffallen sollen.

Selbstverständlich kann man sich darüber streiten, ob es überhaupt sinnvoll ist, Regeln für den digitalen Umgang miteinander niederzuschreiben. Während Verbraucherministerin Ilse Aigner (CSU), die einer Koalition angehört, deren Mitglieder einander wahlweise als „Wildsau“ oder „Gurkentruppe“ bezeichnen, unbedingt der Meinung ist, dass wir einen „Knigge für das Internet brauchen“, steht Markus Beckedahl auf netzpolitik.org diesem Ansinnen skeptisch gegenüber. Aigner, die bereits in der Vergangenheit mehrfach durch ihre etwas naive Sicht auf das Internet aufgefallen ist, sagte im verlinkten Interview mit welt.de: „Solche Regeln können nur aus der Internetcommunity kommen. Es wäre schön, wenn die Nutzer selbst Vorschläge machen würden.“

Nur, wer ist eigentlich „die Internetcommunity“? Auf der einen Seite steht althergebrachtes Datenschutzdenken (stelle kein Bild von Dir mit einem Bierglas in der Hand in ein soziales Netzwerk ein, ein Personalchef könnte Dich deshalb als Bewerber ablehnen) einer deutlich offeneren Sichtweise gegenüber (in einem Unternehmen, das mir hinterherschnüffelt und es mir übelnimmt, weil ich vor fünf Jahren mal ein Bier getrunken habe, möchte ich nicht tätig sein). Darüber hinaus ist fraglich, ob Verhaltensregeln überhaupt explizit formuliert werden müssen oder ob es nicht ausreichend ist, sich dem Anlass und Umfeld möglichst entsprechend zu verhalten. Sobald sich eine Institution oder ein privates Unternehmen aufmacht, Regeln zu formulieren, stellt sich selbstverständlich die Frage nach deren Legitimation.

Dennoch halte ich eEtiquette für eine begrüßenswerte Initative. Der Dialog ist eröffnet – sowohl auf Facebook als auch in den Kommentaren. Sicherlich gibt es an der Website noch einige Verbesserungsmöglichkeiten (u. a. Anzeige der zuletzt kommentierten Beiträge, Zulassung von Links in den Kommentaren, komfortableres Navigieren zwischen den Regeln inkl. Anzeiger der dazugehörigen Diskussion) und etwas bedauerlich ist, dass die Leitlinien bereits auf Papier gedruckt sind, bevor sie überhaupt von einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert wurden. Aber es besteht noch immer Hoffnung, dass eine Diskussion stattfindet und deren Erkenntnisse in eine mögliche 2. Auflage einfließen. Was dem besseren Umgang miteinander dienen kann, schadet sicher nicht.

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Links:

Winterfrische auf Rügen – Teil 1

Strandpromenade

Es ist Ende März. Gemäß den Prophezeiungen des Hundertjährigen Kalenders müssten zu dieser Jahreszeit ein paar Sonnenstrahlen auf der Erde eintreffen, aber es schneit, als wir die Insel erreichen. Madame und ich erleben schon im Alltag genug, also haben wir uns vier Tage Erholungsurlaub im beschaulichen Ostseebad Binz auf Rügen genehmigt.

Die Anreise mit der Bahn verläuft wider Erwarten komplikationslos, und der Weg vom Bahnhof zum Hotel Nymphe erweist sich als kurz. Das ist gut, denn ich habe vergessen, den hoteleigenen Fahrdienst von unserer Ankunftszeit in Kenntnis zu setzen. Vor dem Haus, das für die folgenden Tage unsere Herberge sein soll, steht ein Schild. Darauf steht geschrieben: „Heiter den Alltag abstreifen – mit Lust auf Meer“. Das wollen wir tun, denke ich, wenngleich ich dafür wohl andere Worte gewählt hätte. Später erfahre ich, dass das erst vor wenigen Tagen eröffnete Hotel von einer sogenannten Projektentwicklungsgesellschaft errichtet und schlüsselfertig an die jetztige Betreiberfirma übergeben wurde. Den Slogan hat sich vermutlich der leitende Bauingeniuer, quasi als kreativen Ausgleich zu statischen Berechnungen, erdacht, um sich unsterblich zu machen. Während ich damit beginne, heiter den Alltag abzustreifen, stelle ich fest, dass sich in der Übernachtungsstätte mehr tätige Handwerker als Gäste aufhalten. Erstere haben ihre natürliche Neigung zum morgendlichen Frühbohren, -hämmern und meißeln allerdings erstaunlich gut im Griff, wie sich an den nächsten Tagen herausstellen soll. Vermutlich hat der Ingenieuer auch hierfür einen besänftigenden Spruch im Repertoire, z. B. „Heiter bohren – noch schöner am Nachmittag“.

Unser Zimmer ist geschmackvoll in gedämpften Farbtönen eingerichtet. Die gebuchte Meerseite macht sich allerdings lediglich beim Blick aus einem 40 Zentimeter schmalen Fenster bemerkbar. Das ist nicht so schlecht für ein Haus, das in der zweiten Reihe steht, denke ich, während ich darüber sinniere, ob diese Tatsache auch im Prospekt erwähnt wurde. Meine urlaubsbedingte Grundheiterkeit vermag diese Tatsache allerdings nicht zu trüben: Mein Fenster zur Welt verfügt über eine Diagonale von 24 Zoll und ist ein Apple iMac samt Zugang ins weltweite Netz, der zur Standardausstattung der Zimmer gehört. Manchmal kann es so einfach sein, mich ein bisschen glücklich zu machen. Dass Madame und ich nicht die ersten Gäste in diesem Raume sind, wird mir beim Einschalten des Rechners klar: Das Vorbewohnerpärchen hat uns ein mit der in den Computer integrierten Kamera aufgenommenes Selbstportrait in eindeutiger Pose hinterlassen. Dass der Mann auf dem Bild sein entblößtes Genital in der Hand hatte, brauchte ich der jungen Dame an der Rezeption so detailliert nicht zu schildern. Mein dezenter Hinweis darauf, dass sicher nicht alle Gäste im Umgang mit der modernen Technik vertraut seien und wir „delikates Bildmaterial“ vorgefunden hätten, reichte aus, um dem Empfangsfräulein einen Satz rote Ohren zu bescheren.