Aufzeichnungen aus dem Kellerloch

Bahnhof Dammtor, Hamburg

Ich bin ein kranker Mensch … Ich bin ein böser Mensch.
Ein abstoßender Mensch bin ich. Ich glaube, meine Leber
ist krank. Übrigens habe ich keinen blassen Dunst von meiner
Krankheit und weiß gar nicht mit Sicherheit, was an mir
krank ist. Für meine Gesundheit tue ich nichts und habe
auch nie etwas dafür getan, obwohl ich vor der Medizin und
den Ärzten alle Achtung habe. Zudem bin ich noch äußerst
abergläubisch, so weit z.B., daß ich vor der Medizin
alle Achtung habe. (Ich bin gebildet genug, um nicht abergläubisch
zu sein, aber ich bin abergläubisch.) Nein, meine Herrschaften,
wenn ich für meine Gesundheit nichts tue, so geschieht das
nur aus Bosheit. Sie werden sicher nicht geneigt sein, das zu
verstehen. Nun, meine Herrschaften, ich verstehe es aber. Ich
kann Ihnen natürlich nicht klarmachen, wen ich mit meiner
Bosheit ärgern will, ich weiß auch ganz genau, daß
ich nicht einmal den Ärzten dadurch schaden kann, daß
ich mich nicht von ihnen behandeln lasse; ich weiß am allerbesten,
daß ich damit einzig und allein mir selbst schade und niemandem
sonst.

(Fjodor M. Dostojewski, aus Aufzeichnungen aus dem Kellerloch)

Scheinfrühling

Die Luft ist warm
und das Leben sieht bunt aus.
Die einen haben,
gehen mit ihrem Hund raus.
Ich wollt’n Text schreiben
und bin zu Haus geblieben
Ich geh durch die Wohnung mit gemischten Gefühlen,
besteig meinen Thron
und sitze zwischen den Stühlen.

(Blumfeld)

Durch das geschlossene Fenster wirkt dieser Januartag frühlingshaft. Zum Glück ist es kalt draußen, sonst wäre dieser plötzliche Umschwung kaum auszuhalten. Vor dem Nola’s am Weinberg, einem schweizer Lokal in Mitte, sitzt man in Decken gehüllt auf Liegestühlen: Ein kleiner Zauberberg – mit mehr Milchkaffee und weniger Tuberkulose.

Während die einen bemüht sind, die ersten Sonnenstrahlen einzufangen, sind die anderen damit beschäftigt, Dinge komplizierter zu machen. Dieser Frühlingstag ist ein trügerischer Schein – es ist Ende Januar; Winter.

Parabel von der Angst des Zuwartenden vor der Anfangsverschlechterung

“Es hat keinen Sinn zu warten bis es besser wird,
das bißchen besser wär das Warten nicht wert“
(Die Sterne)

Mein rechter Arm schmerzt. Es ist kein unerträglicher Schmerz, der mich sofort in das überfüllte Wartezimmer eines Facharztes für Schmerztherapie treibt, sondern mehr ein unangenehmes Ziehen beim Strecken und Beugen. Auf einer Schmerzskala von 1-10 vielleicht eher eine 5-6. Stunden des Tages verbringe ich in  krummer Haltung vor einer Tastatur, trage in meiner Freizeit leidenschaftlich gern eine viel zu schwere Kameraausrüstung mit mir herum und des Nachts habe ich mir eine Schlafhaltung angewöhnt, bei der die Hand unter meinem Kopf liegt, was zu einem starken Abknicken des Armes führt. Auch ohne Ausübung eines Rückschlagspiels sind dies allerbeste Voraussetzungen für das Gedeihen eines Tennisarms. Unregelmäßig trage ich eine schmerzstillende Salbe auf – wie mir bewusst ist, eine eher halbherzige Behandlung. Im Großen und Ganzen setze ich auf die Therapieform des Zuwartens. Ich hoffe darauf, dass es durch Nichtstun besser wird. Man könnte sagen, ich bin ein Zuwartender.

Sie hingegen hat immer ganz genau auf die Signale ihres Körpers gehört. Routineuntersuchungen waren stets selbstverständlich und bei der geringsten Auffälligkeit hat sie unverzüglich einen Arzttermin vereinbart. Wenn es ihr gut tat, schreckte sie auch nicht davor zurück, alternative Heilmethoden auszuprobieren. Sie ist eine Interventionistin. Um die Unsicherheit über mein eigenes Handeln – oder besser gesagt Nichtstun – zu überspielen, habe ich sie dafür manchmal ein wenig belächelt. Ein Fehler, denn eigentlich wusste ich, dass ihr Weg, die Dinge anzugehen, der richtigere war.

In der Pharmakologie gibt es das Phänomen der Anfangsverschlechterung: In einem ungünstigen Behandlungsverlauf kann es zu einer Verschlechterung der Symptome kommen. Das heißt, man versucht, etwas zu verbessern, und zunächst einmal wird alles schlechter. Eine durchaus betrübliche Aussicht, die für den zwanghaften Zuwartenden keinen besonders großen Anreiz zum Handeln darstellt.

Während Sie mir immer wieder mit liebevoller Geduld zur Intervention riet, setzte ich auf Angst vor der Anfangsverschlechterung immer weiter auf das Konzept des Zuwartens. Ohne es überhaupt versucht zu haben, hatte ich vage Zweifel, ob eine Behandlung zu einem gewünschten Heilung führen würde. Zudem galt es, beschwerliche Hürden zu nehmen: Arzt finden, im Wartezimmer sitzen, umfangreiche Anamnese, langwierige Behandlung, Medikamente mit Nebenwirkungen, hohe Arztrechnungen. All das ohne Garantie auf einen Erfolg. Schließlich handelte es sich ja auch nur um ein scheinbar kleines Problem.

Irgendwann jedoch wurden die Schmerzen größer und waren nicht mehr auszuhalten. Ich wünschte, ich hätte rechtzeitig auf sie gehört, aber nun ist es zu spät. Vor kurzem wurde mein rechter Arm amputiert.

Kolik

Auch dieser Tag ist kein besonders guter und somit fügt er sich nahtlos in mein restliches Leben ein. In einer wichtigen Angelegenheit gescheitert zu sein, ist nicht sonderlich angenehm. Alles was bleibt, passt in eine kleine Plastiktasche. Den Tag rundet ein körperlicher Schmerz ab. Es beginnt meist ganz leicht mit einem Ziehen in der Nierengegend. Ich kenne das schon: Ein Nierenstein geht ab; Männer in meinem Alter haben das schon mal. Beim ersten Mal wundert man sich, dass ein Mensch solche Schmerzen haben kann. Mal dauert es ein paar Stunden, in ungünstigeren Fällen kann man sich ein paar Tage damit vergnügen. Eine Zertrümmerung lohne nicht, sagt der Urologe, es sei ja nur etwas Gries auf dem Ultraschallbild zu sehen. Man krümmt sich, streckt sich, trinkt Bier und hüpft; wohl wissend, dass es natürlich zu spät dafür ist, wenn man den Schmerz erst einmal zu spüren bekommen hat. Ich nehme Metamizol in Form von Tropfen ein; wohl wissend, dass eine Infusion jetzt das probatere Mittel wäre. Ich bin froh, dass mich in diesem Moment niemand sieht und denke, wenigstens spürst du jetzt, dass du noch lebst. Ich ahne, dass es davon kommt, in den letzten Tagen zu wenig Flüssigkeit zugeführt zu haben und erfreue mich ein wenig an der Erkenntnis, dass es gelegentlich viel unangenehmer sein kann, zu wenig zu trinken als zu viel.