Frei erfundene Geschichten zu zufällig gefundenen Fotografien sind ja auch so ein literarischer Gemeinplatz. Unzählige Schriftsteller haben sich daran versucht, aber niemand will das lesen.
Und doch juckt es in meinen Fingern, als ich die Fotografie von dem alten Paar und ihrem Hund entdecke. Leicht gebückt stehen sie nah beieinander, sie (mit Faltenrock) legt ihm (im Altemännerpullover) den Arm sanft um die Schulter, zu ihren Füßen ein treudoof blickender Golden Retriever. Alle lächeln, das Paar weil es fotografiert wird, der Golden Retriever, weil es sein natürlicher Gesichtsausdruck ist. Im Garten wächst gemeiner Rhabarber und stehen mehrere aus Holz geschnitzte Skulpturen.
Was mag ihre Geschichte wohl sein? Und vor allem – das Traurige daran ist die Metaebene – warum steht dieses gerahmte Bild so verloren in einem Hauseingang auf St. Pauli?
Ich weiß es nicht. Und werde es wohl auch nie erfahren.
Als es los geht, regnet es. Aber das ist egal, denn wir sind ja in Hamburg, also tun wir den Besuchern aus sonnigeren Gefilden den Gefallen, ihr Wettervorurteil zu bestätigen, und auf Woodstock hat es schließlich auch geregnet. Am Pressecounter gibt es große Leihregenschirme, ich will keinen, weil Regenschirme kein Rock ’n‘ Roll sind, und außerdem lassen einen die Türsteher mit den riesigen Stöcken ganz sicher nicht in die Clubs.
Im Molotow wird weniger geraucht als früher und wenn man neben dem Eingang des Kellerclubs steht, riecht es penetrant nach Klo. Der Zigarettenrauch hat das damals gut überdeckt. Ja ja, die guten alten Zeiten usw. Bald wird hier gar nicht mehr geraucht. Denn während beim Eröffnungsempfang ein Haus weiter der Bürgermeister Hand in Hand mit der Kultursenatorin bei Häppchen und perlenden Getränken aus langstieligen Gläsern den Musikstandort Hamburg in höchsten Tönen lobt, fällt das Molotow demnächst Immobilienspekulanten zum Opfer. Das ist traurig und auf die sterbende Clubszene trinke ich noch ein Festival-Bier, das die lokale Brauerei speziell zu diesem Anlass gebraut und mit einem besonders schönen Etikett versehen hat, das man leider nicht sieht, weil das Bier aus der Flasche umgehend in einen Plastikbecher umgefüllt wird. Bier aus Plastikbechern ist noch weniger Rock ’n‘ Roll als Regenschirme.
Steve Blame sagt Musik an, und ich fühle mich zurückversetzt in meine Jugend, eine internetlose Zeit, als Musikvideos noch im Fernsehen gespielt wurden. Auf der Bühne eine Band aus Düsseldorf: Stabil Elite. Der Name ist bescheuert, aber das ist egal, denn sie sind gut. Die fleischgewordene Krautrockkraftwerker bearbeiten gekonnt ihre Instrumente, alles schön bombastisch mit Moog-Synthesizern und Druck in den Bässen. „Alles, was ich anfasse, wird zu Gold“, singen sie, und tragen dabei frisch gebügelte weiße Hemden. Klar, dass sie auf der Bühne rauchen – alles, was schlecht für die Gesundheit ist, ist gut für die Attitüde. Das haben sie auf der Kunsthochschule gelernt.
Eigentlich gehe ich nicht gern auf Konzerte von Bands, die ich nicht kenne. Ich mag keine Überraschungen. Trotzdem bin ich nach dem Auftakt beschwingt. In der Meanie Bar oben spielt eine sehr junge Band. Den Jungs wächst noch nicht einmal ein Bart, nur ihr Bassist trägt ein rundum behaartes Haupt und wirkt damit ein bißchen wie ihr Musiklehrer. Auch sie rocken gut, jedenfalls viel besser als Schülerbands zu meiner Zeit. Leider habe ich keine Ahnung, wie die Kapelle heißt, denn das Programmheft ist das Unübersichtlichste. 110 Seiten bebildertes Chaos ergänzt durch eine App, die unablässig kurzfristige Programmänderungen auf mein Mobiltelefon pusht und vor überfüllten Veranstaltungsorten warnt, machen mich orientierungsloser als eine Überdosis Plastikbecherbier es könnte.
Dann kurz rüber in den Mojo Club. Es herrscht gähnende Leere in der sterilen Architektur. Die einstige Clublegende scheint im Neubau als Zombie wieder auferstanden zu sein. Viel Dancefloor, aber wenig Jazz; dafür aber Gin Tonic mit zu viel Gin, was gut gemeint, aber eben auch nicht gut ist. Nippen am Drink, Wippen zur Musik, Schmunzeln über den Bierautomaten auf dem Herrenklo. Dann schnell rüber in die benachbarte Hotellobby, Treffen mit Freunden, mehr Bier trinken, aber jetzt aus schön etikettierten Festivalflaschen. Dann mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Neugier im Nachtbus nach Hause durch das Programmheft blättern.
Herbertstraße, Hamburg-St. Pauli: Sündige Meile, käufliche Liebe. Durchgang nur für volljährige Herren. Vollbusige Damen sitzen hinter Glasscheiben und bieten für ein paar Scheine ihre Körper an. Vorwiegend Touristen amüsieren sich hier, die meisten kommen aber nur zum Glotzen.
Herbertstraße, Berlin-Schöneberg: Eine verkehrsberuhigte Wohnstraße im Südwesten der Hauptstadt, ganz in der Nähe des mittlerweile geschlossenen Pudelsalons. Weit und breit keine Sünde zu sehen – nur ein Hörgeräteakustiker.
Herbertstraße Hamburg vs. Berlin: 6 : 3,5.
Richtige Hamburg-Berlin-Vergleiche gibt es auf pop64.de.
Hamburg: Ein paar Schritte vom Fischmarkt entfernt befindet sich auf dem Dach des Golden Pudel Clubs, der Elbphilharmonie der Herzen, der Pudel Salon. Schlicht eingerichtet, aber mit einem hervorragenden Blick auf das Tor zur Welt. Im Winter trinkt man drinnen eine heiße Schokolade mit Rum, draußen bereits am Nachmittag kühles Bier und blickt den tutenden Schiffen hinterher. Toll.
Berlin: Tief im Westen bringt eine ältere Dame mit goldberandeter Brille und Pelzmantel ihren Vierbeiner mit wolliger gerkäuselter Beeharung zum Hundefriseur. Kritisch beäugt sie das Stutzen der Wolle, dann zieht sie ihrem Pudel, der entweder Sultan oder Daphne heißt, ein rosa Mäntelchen mit strassbesetzten Steinchen über, um mit ihm an der kurzen Leine durch den Kleistpark zu stolzieren. Macht der Köter einen Haufen, schaut das Frauchen pikiert, entsorgt diesen aber vorschriftsgemäß mit spitzen Fingern in der eigens hierfür mitgebrachten Plastiktüte. Anders toll.
Pudel Salon Hamburg vs. Berlin: 97 : 3.
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