Ein Schlauch, ein Kleinkraftrad, ein Hinterhof, zwei Bauwagen — Wedding. „Der Wedding“, wie der Berliner zu sagen pflegt. Ein Ortsteil im Bezirk Mitte von Berlin; zentral gelegen und dennoch unspektakulär.
Meine Wedding Nights: schlaflos, aber trotzdem einsam.
Die Bahnfahrt zwischen Hamburg und Berlin dauert derzeit aufgrund einer Baustelle etwa eine Stunde länger als gewöhnlich. Die Zugbegleiter teilen daher kostenlos Getränke und Laugenstangen an die Fahrgäste aus – „Inklusivservice“ nennt sich dies im Bahnsprech. Trotz der längeren Fahrtzeit und der inklusivservicebedingten Mehrarbeit ist das Bahn-Team frohen Mutes. Möglicherweise ist dem so, weil ihr Vorstandsvorsitzender, Hartmut Mehdorn, aufgrund einer Datenaffäre seinen Rücktritt bekanntgegeben hat. Pappige Laugenstangen und Mineralwasser aus dem Pappkarton können jedenfalls nicht die Gründe für all die strahlenden Gesichter im ICE 831 sein. Später werden noch ein Paar – genaugenommen zwei winzige – Pralinen gereicht, auf deren Karton steht: „Lassen Sie sich unsere Bauarbeiten etwas versüßen.“
Am Hauptbahnhof der Hauptstadt angekommen, stürzen sich mehrere Kamerateams auf die Zugreisenden, um erste Stellungnahmen zum Rücktritt des Bahnchefs zu erhalten. Die fletschenden Zähne der Journalisten verraten, dass reißerische Statements erwartet werden. Ich kann leider nichts Schlechtes über Mehdorn sagen: Immerhin hat er mir die Bauarbeiten versüßt.
Auszug aus dem Protokoll eines Telefonats mit der Stadt Kiel (Vorwahl: 0431):
Ich: „Guten Morgen Kiel, du kannst so häßlich sein.“
Kiel: „Sie meinen sicher Berlin.“
Ich: „Nein, nein, ich meine Kiel, die graue Stadt am Meer.“
Kiel: „Aber die graue Stadt am Meer ist doch Husum, die Heimat Theodor Storms.“
Ich: „Ach so, Kiel liegt ja auch nicht am Meer, sondern nur an der Ostsee. Ich habe Kiel bereits in meiner Kindheit als sehr trist wahrgenommen: nach dem Krieg hat man den grauesten Beton gefunden, den man bekommen konnte, und daraus Kiel wieder aufgebaut. Charme sucht man vergeblich, Spröde hingegen ist allgegenwärtig.“
Kiel: „Aber denken Sie doch bitte an den Glanz der Kieler Woche oder an die großen Erfolge unserer Handballmannschaft.“
Ich: „Ist das alles, was die schleswig-holsteinische Landeshauptstadt zu bieten hat?“
Kiel: „Aber weitem nicht, mein Herr. Unser ursprünglich von Adolf Hitler eingeweihtes Marine-Ehrenmal Laboe ist eine große Attraktion. Heute erinnert es „an die auf den Meeren gebliebenen Seeleute aller Nationen“ und verfügt über einen eigenen Fan-Shop im Internet, in dem man das Ehrenmal im als Bausatz im Maßstab 1:250 erwerben kann.“
Ich: „Das reizt mich nicht.“
Kiel: „Wie wäre es denn mit unseren Rotlichtviertel, direkt am Hafen? Hier locken nicht nur die Erlebnisbar-Eden [Bild s. oben, Anm. d Red.], sondern auch so renommierte Etablissements wie der Crazy Sexy Innenhof.“
Ich: „Nein, nein, das ist nicht, was ich suche.“
Kiel: „Geben Sie uns eine Chance, ich schicke Ihnen unseren Katalog. Sie werden begeistert sein. Kiel könnte so etwas werden wie die graue Stadt der Herzen.“
Ich: „Wohl eher die graue Stadt der Nieren. Vielen Dank und auf Wiederhören.“
Berlin, Du spröde Metropole. Keine 300 Kilomenter trennen Dich von Hamburg – und doch ist es nicht einfach, Dich zu erreichen. Die Bahnfahrt dauert derzeit über zwei Stunden. Eine Baustelle ziert wieder einmal den Weg, und außerdem kostet die Fahrt etwa so viel wie eine durchschnittliche Monatsmiete (in der Hauptstadt wohlgemerkt). Auch Busfahren ist keine Alternative; der größte Teil der Mitreisenden führt Plastiktüten als Gepäckstück mit sich und versprüht unangenehme Ausdünstungen. Meine letzte Hoffnung, Dich doch noch zu erreichen, ist die über das Internet organisierte Mitfahrt in einem Kraftfahrzeug einer der vielen Pendler zwischen den Großstädten. Doch auch dies ist nicht ohne Hürden: einige beginnen ihre Fahrt in Vierteln, die von meinem Wohnort fast so weit entfernt sind wie das Reiseziel selbst, andere bieten ausschließlich Mitfahrgelegenheiten „von Frauen für Frauen“ an oder rauchen Kette. Die meisten allerdings bekunden beim Anruf: „… bin schon voll.“ Vielen Dank, aber bei einem vollen Fahrer wäre ich ohnehin nicht eingestiegen.
Schließlich findet sich doch noch eine Mitfahrgelegenheit für mich: eine verhuschte Frau in einem winzigen koreanischen Kleinwagen, der vollgestopft ist mit Gepäck und Mitfahrern. Am Rückspiegel hängt eine Figur von Hein Blöd und ein nicht näher zu identifizierender Gegenstand, der wie eine Voodoo-Puppe ohne Nadeln aussieht, die Rückbank wird durch ein Kunstkuhfell geschützt. Die Frau am Steuer gibt nimmt auf der Autobahn mehrfach unvermittelt den Fuß vom Gas; meistens wenn ihr Mobiltelefon klingelt, manchmal aber auch einfach nur so. Die Situation der Fahrerin scheint prekär: Am Telefon melden sich verschiedene Menschen, denen die Fahrerin Geld schuldet, das sie ihnen schon längst überweisen wollte. „Geld ist im Moment knapp bei mir“, lautet der von ihr am häufigsten gesagte Satz und nimmt dabei wieder den Fuß vom Gaspedal. Bei wem nicht, denke ich und bin verwundert, dass sie die Fahrtkosten nicht schon an der zwischendurch angesteuerten Tankstelle kassiert. Jeden Moment rechne ich damit, dass die Frau hinter dem Steuer große Stricknadeln aus dem Handschuhfach holt, um damit die am Spiegel hängende Puppe zu bearbeiten und weiß nicht, ob ich mehr Angst vor einem Auffahrunfall oder vor der drohenden Thrombose haben soll.
Wenigstens schweigen die Mitfahrer. Während ich aus dem Fenster schaue, frage ich mich, ob es das Waldsterben noch gibt. Jedenfalls habe ich seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nichts mehr davon gehört. Vielleicht ist es für Umweltschutzorganisationen auch nicht mehr spektakulär genug, für die Erhaltung des deutschen Waldes zu kämpfen. Um heute die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erlangen, braucht es schon einen Atomunfall oder zumindest einen Tsunami. Der Wald am Rande der Autobahn ist jedenfalls sehr kahl: Entweder ist er bereits tot oder das ist einfach nur der Winter.
Nach knapp drei Stunden Fahrt erreichen wir unser Ziel: Berlin-Messe. Eine trostlose Gegend. Es regnet (weitaus stärker als in Hamburg). Trotzdem besuche ich Dich immer gern, Berlin.
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