Rettet die Wale

Der Sinnlosigkeit unseres Daseins vollkommen bewusst, versuchen wir zwischen Blasmusik und Apokalypse das Blatt doch noch zum Guten zu wenden. Denen dies naturgemäß ebenfalls nicht gelingen will, obwohl sie sich viel mehr anstrengen als wir, widmen wir ein müdes Lächeln. Es nicht einmal mehr Zynismus, sondern Resignation, die unsere Gesichtszüge entspannen lässt. Wenigstens sind wir mit unserem Lächeln nicht allein – aber auch darin ist kein Trost zu finden.

Nach dem Aufstehen zum halbleeren Glas greifen, in dem man Wasser wähnte, sich aber noch der Rest des Wodkas vom vorvergangenen Abend befindet, und einen großen Schluck nehmen. Dann das Romanfragment aus der Schublade ziehen und verbrennen; anschließend die Wale retten.

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GustavRettet die Wale

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Dies ist ein Beitrag aus meiner Serie “Der Soundtrack meines Lebens”.

Angst

Vor einiger Zeit hörte er, dass ein Bekannter einer Freundin unter Angst vor Knöpfen (Koumpounophobie) leide. Was zunächst ein bißchen lustig klingen mag, stellt sich spätestens dann als Problem heraus, wenn dem Ängstlichen jemand statt in einem T-Shirt in einem Hemd gegenüber sitzt. Einem engen Freund wiederum wurde kürzlich nach einer dreistelligen Anzahl an Sitzungen auf der Couch eines Thearapeuten diagnostiziert, dass er Angst vor dem Ablaufen der Zeit habe (Chronophobie).

Auch er litt an Ängsten: So bereitet ihm u.a. der Blick in die Tiefe oft großes Unbehagen (Bathophobie). Besonders, wenn die Umstände wackelig sind, kann er sich kaum noch auf seinen Gleichgewichtssinn verlassen und gerät ins Stocken.

Aber auch andere Rahmenbedingungen können in ihm Furcht und Schrecken auslösen. Um sich zu versichern, dass mit den Phobien, unter denen er zu leiden glaubt, nicht allein ist, überprüft er deren Existenz unregelmäßig in einem Online-Lexikon.

Im Gegensatz zu vielen Mitmenschen ist ihm jedoch eine Angst völlig fremd: Fluganst (Aviophobie). Selbst größere Turbulenzen nimmt er in höchsten Höhen mit Gleichmut hin und denkt dabei stehts: Wenn wir jetzt abstürzen, dann ist es alles wenigstens schnell vorbei.

Tschüss, altes Haus

Ev’ry time we say goodbye,
I die a little.
Ev’ry time we say goodbye,
I wonder why a little.

(Cole Porter)

Da steht er nun ganz allein ein letztes Mal auf dem Balkon der Wohnung, die für eine kurze Zeit sein Zuhause war. Er trinkt einen Schluck Bier aus der Flasche und schaut hinunter in die Tiefe.

Nicht loslassen können, aber auch nicht springen wollen. – Das ist das Dilemma.

Nachruf

„Versuchen wir es mit Ironie:
Das Leben ist schön.“

(@bosch)

Am Rande des Friedhofs der, so groß ist, dass auf ihm Linienbusse verkehren, befindet ein tristes Café. Zwischen Trauerrede, die der Pfarrer mühsam aus dem Gedächtnisprotokoll der Hinterbliebenen zusammengestückelt hat, und der letzten Fahrt mit dem Kombi kommt die Gemeinde noch einmal auf Korn und Butterkuchen zusammen, um der Verstorbenen zu gedenken.

Während für Prominente, bei denen die Redaktionen der großen Medienhäuser davon ausgehen, dass sie in näherer Zukunft das Zeitliche segnen werden, längst wohlformulierte Nachrufe in der Schublade liegen, interessiert sich normalerweise niemand für das Ableben der 98jährigen Rentnerin Erna Müller, die beim Gardineaufhängen von der Leiter gefallen ist.

Obwohl die Nachrichtenlage für den regelmäßigen Leser einer Tageszeitung zu jeder Zeit deprimierend genug sein dürfte, erkennt die Redaktion des Regionalblattes, dass die Zukunft der Zeitung im Lokalen liege. Schließlich interessere einen Menschen ja nichts mehr als den Menschen und man müsse wieder näher ran an das Geschehen im Alltag etc. Und so kam es, dass man beschloss, den Rezipienten fortan jeden Freitag mit Erinnerungen an „Berliner, die in jüngster Zeit gestorben sind“ im Schülerzeitungserzählstil zu konfrontieren.

Und so erfahren wir im Nachruf des Tagesspiegels nicht nur, dass Erna Müller häufig Auseinandersetzungen mit ihren nachts lärmenden Nachbarn, aber trotz allergischer Reaktionen Freude an ihrer Angorakatze hatte. Bei der Beerdigung ihres einige Jahre vor ihr verstorbenen Ehemannes erfuhr sie zufällig von der Existenz seiner frühren Geliebten, da es sich diese nicht nehmen ließ, einen üppigen Kranz zu schicken. Mittags aß sie immer am liebsten Schlemmerfilet á la Bordelaise und hatte sehr gepflegte Fingernägel. Ein Kind war in ihren Lebensplänen nicht vorgesehen, dafür aber regelmäßige Fahrradtouren in der Eifel.

Und das soll nun alles gewesen sein?