eEtiquette – 101 Leitlinien für die digitale Welt

Der Trend zur Handarbeit scheint ungebrochen: Nach Stricken und Nähen wird nun gestickt. Aber nicht nur Handarbeit ist wieder schwer im Kommen, sondern auch gutes Benehmen ist wieder gefragt. Eine Denkabteilung der Telekom hat sich gemeinsam mit anderen klugen Köpfen Gedanken über das Miteinander in der digitalen Welt gemacht. Herausgekommen sind dabei 101 Leitlinien in Kreuzstichanmutung.

Während im richtigen Leben der Allgemeine Deutsche Tanzlehrerverband (ADTV) die Hoheit über geltende Benimmregeln hat, lud gestern der Magentariese zum Höflichkeit-2.0-Dinner ins Restaurant Dos Pallilios des Hotels Casa Camper in Berlin, um mit Journalisten und Bloggern über die Ergebnisse des Nachdenkens zu diskutieren.

Es war natürlich sehr heiß, wie immer in diesen Tagen, und das erste Etiketteproblem ergab sich bereits bei der korrekten Form der Entledigung der uns zur Kühlung gereichten, in kaltem Wasser getränkten Waschlappen.

Vor uns papierene Tischdecken, bedruckt mit Teller, Messer, Gabel, Glas, Serviette etc. Daneben Aufkleber mit den Logos der gängigen Sozialen Netzwerke: Twitter, Facebook, XING etc. In etwas komplizierten Worten wurden wir aufgefordert, Analogien aus dem Alltag zu bilden: Ist Facebook meine Gabel? Ist Twitter mein Teller? Manch einer wird sich nach dieser Eröffnung zurecht gefragt haben: Häh? Sollte es doch bei diesem Abend darum gehen, ob man Kontaktanfragen auf Facebook einfach ablehnen darf, oder wie lange man in einem Café das kostenlose WLAN nutzen darf, ohne etwas zu bestellen.

Es folgten 18 Gänge asiatischer Speisen, darunter so Abenteuerliches wie Kimchi mit Qualle oder Schweinekinn kantonesischer Art. Die meisten Speisen waren ein Genuss, die anderen zumindest interessant, dazwischen immer wieder ein paar kurze Ansprachen, u. a. von einer Dame der Knigge-Gesellschaft, von der mir inhaltlich nicht viel in Erinnerung geblieben ist. Trotz gepflegter Konversationen mit den Tischnachbarn über das Für und Wider der aufgestellten Benimmregeln, blieb die große Diskussion aus.

Während über die meisten der vorgestellten Regeln sicherlich ein breiter Konsens herrscht (zeitnah auf E-Mails antworten, beim ersten Kontakt die korrekte Anrede und Grußformel verwenden usw.), und auch einige Regeln das Werk künstlich aufblasen (im Büro auf die Lautstärke des Tippgeräusches achten), gibt es unter den 101 Regeln aber auch zahlreiche Punkte, über die man hätte diskutieren können, z. B.:

  • Nr. 37: „Wikipedia löst nicht alle Meinungsverschiedenheiten. Verwende es in Maßen.“ Jens Best, der bereits unter vielen Regeln eine Diskussion angestoßen hat, weist hier in den Kommentaren vollkommen zurecht darauf hin, dass hier der aktive Gestaltungsauftrag, nämlich sich selbst an der Verbesserung der Wikipedia zu beteiligen, vollkommen vernachlässigt wird.
  • Nr. 53: „Setze Foto-Tags behutsam – im Zweifel lieber keine.“ Hier wird nicht berücksichtigt, dass das Verschlagworten eine der Grundideen des Social Webs ist, sondern wieder (zu) stark auf Privatsphärediskussionen abgestellt.
  • Nr. 61: „Blocke andere gleich, statt eine ungewollte Freundschaft später rückgängig zu machen.“ Hier stellt sich schon die Frage, ob man nicht zwischen der Ablehnung einer Kontaktanfrage und dem radikaleren Schritt des Blockens differenzieren sollte.

Insgesamt ist mir aufgefallen, dass viele der aufgestellten Regeln eher negativ formuliert sind und auf das Unterlassen abzielen (Taggen von Fotos, Verwendung von Wikipedia), anstatt im Netz zur aktiven Gestaltung aufzufordern. Auch sind viele – an sich berechtigte Punkte – missverständlich formuliert (z. B. Nr. 11Nr. 33, Nr. 34). 101 Regeln sind meiner Meinung nach auch zu viele, das Regelwerk hätte durchaus etwas kompakter auffallen sollen.

Selbstverständlich kann man sich darüber streiten, ob es überhaupt sinnvoll ist, Regeln für den digitalen Umgang miteinander niederzuschreiben. Während Verbraucherministerin Ilse Aigner (CSU), die einer Koalition angehört, deren Mitglieder einander wahlweise als „Wildsau“ oder „Gurkentruppe“ bezeichnen, unbedingt der Meinung ist, dass wir einen „Knigge für das Internet brauchen“, steht Markus Beckedahl auf netzpolitik.org diesem Ansinnen skeptisch gegenüber. Aigner, die bereits in der Vergangenheit mehrfach durch ihre etwas naive Sicht auf das Internet aufgefallen ist, sagte im verlinkten Interview mit welt.de: „Solche Regeln können nur aus der Internetcommunity kommen. Es wäre schön, wenn die Nutzer selbst Vorschläge machen würden.“

Nur, wer ist eigentlich „die Internetcommunity“? Auf der einen Seite steht althergebrachtes Datenschutzdenken (stelle kein Bild von Dir mit einem Bierglas in der Hand in ein soziales Netzwerk ein, ein Personalchef könnte Dich deshalb als Bewerber ablehnen) einer deutlich offeneren Sichtweise gegenüber (in einem Unternehmen, das mir hinterherschnüffelt und es mir übelnimmt, weil ich vor fünf Jahren mal ein Bier getrunken habe, möchte ich nicht tätig sein). Darüber hinaus ist fraglich, ob Verhaltensregeln überhaupt explizit formuliert werden müssen oder ob es nicht ausreichend ist, sich dem Anlass und Umfeld möglichst entsprechend zu verhalten. Sobald sich eine Institution oder ein privates Unternehmen aufmacht, Regeln zu formulieren, stellt sich selbstverständlich die Frage nach deren Legitimation.

Dennoch halte ich eEtiquette für eine begrüßenswerte Initative. Der Dialog ist eröffnet – sowohl auf Facebook als auch in den Kommentaren. Sicherlich gibt es an der Website noch einige Verbesserungsmöglichkeiten (u. a. Anzeige der zuletzt kommentierten Beiträge, Zulassung von Links in den Kommentaren, komfortableres Navigieren zwischen den Regeln inkl. Anzeiger der dazugehörigen Diskussion) und etwas bedauerlich ist, dass die Leitlinien bereits auf Papier gedruckt sind, bevor sie überhaupt von einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert wurden. Aber es besteht noch immer Hoffnung, dass eine Diskussion stattfindet und deren Erkenntnisse in eine mögliche 2. Auflage einfließen. Was dem besseren Umgang miteinander dienen kann, schadet sicher nicht.

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Links:

Die Kunst der Fuge

Einfache Fugen, Gegenfugen, Fugen mit zwei und drei Themen, Spiegelfugen, vier Kanons, anschließende Quadrupelfuge: Johann Sebastian Bach hat sein Werk Die Kunst der Fuge (BWV 1080) nie vollendet, dadurch aber wiederum Generationen von Musikwissenschaftlern Arbeit verschafft.

Bei weit über 30 Grad im Schatten überquere ich die Brücke in der Pappelallee und trete mit dem rechten Fuß in etwas Weiches. Hocherfreut bin ich, als ich erkenne, dass es sich in diesem Falle nicht, wie sonst in Berlin üblich, um die Endprodukte der Verdauung eines Hundes handelt, sondern um eine physikalische Notwendigkeit. Die zuständigen Bauarbeiter nämlich haben die erforderliche Dehnungsfuge zum Glück sehr wohl vollendet. Nicht auszudenken, hätten sie sich an JSB orientiert: Vermutlich wäre das Bauteil längst in Folge einer Wärmedehnung zerborsten.

Verständlich, dass ich seitdem gern ein Thema in d-moll ungewöhnlich fröhlich vor mich hin pfeife, wenn ich eben jene Brücke sicher überquere. Auf Hundescheiße muss ich natürlich trotzdem achtgeben, die lauert überall.

Auf dem Trockenen

Ich bin Nichtraucher. Trotzdem lasse ich mich von der Zigarettenindustrie zu einer Bootsfahrt einladen. „Rauchen kann tödlich sein“, steht auf dem Ticket, aber ich hatte nicht vor, die Abgsase des Schiffsdiesels zu inhalieren.

Samstag, 10. Juli 2010, 11.30 Uhr, Treptower Hafen: etwa zehn größere Ausflugsdampfer stehen bereit, am Checkin eine kurze Warteschlange von überschaubaren 50 Personen – ein Double von Paris Hilton, ein paar tätowierte Jungs und drei Elektromädchen mit goldenem Bier in der Hand. Auf dem Ticket steht auch: „Einlass ab 18 Jahren. Bitte Ausweis mitbringen.“

Meinen Ausweis habe ich leider nicht dabei. Nicht, dass ich mich prinzipiell dieser Bitte widersetzen wollte, wie es vielleicht naheliegend erscheinen mag, sondern weil ich die Identitätskarte schlichtweg vergessen habe. Dennoch: Der Text klang in meinen Ohren eher wie eine Bitte. Wäre ein Personalausweis Voraussetzung für die Teilnahme an dieser Dampferfahrt gewesen, hätte man als Texter auch schreiben können: „Einlass nur mit Personalausweis“, dann wäre die Wahrscheinlichkeit, dass ich an ihn gedacht hätte, etwas größer gewesen.

Wie dem auch sei, es ist mein Fehler, dass ich den Ausweis nicht dabei habe – dennoch hätte ich trotz meines jugendlichen Aussehens damit gerechnet, mit nunmehr 33 Jahren durchgewinkt zu werden, zumal die Promotiondamen am Checkin lediglich einen sehr flüchtigen Blick auf die Dokumente der Damen und Herren vor mir warfen. Aber: Sie haben ihre strikten Anweisungen.

Die Dame hinter dem Schalter kann natürlich nichts dafür, wie meistens niemand etwas dafür kann, wenn etwas nicht so funktioniert, wie es funktionieren sollte. Etwas mehr Flexibilität und Problemlösungskompetenz ist angesichts der Hitze vielleicht auch zu viel verlangt – ich werde wieder nach Hause geschickt. Mir tut meine Begleiterin leid, deren Vormittag ich nun etwas verdorben habe. Aber die Tabakindustrie wird auch trotz Bötchenfahrt baden gehen, wenn das brutalstmögliche Rauchverbot erstmal kommt – und ihre unflexible Promotionbude hoffentlich gleich mit ihr.

Karren