Fernsehschirm

Konnte ich mich vor zwei Jahren noch dem gemeinschaftlichen Betrachten von fußballerischen Großereignissen erfolgreich entziehen, so habe ich in diesem Jahr den Widerstand gegen das so beliebte öffentliche Anschauen – zumindest für einige wenige Spiele – aufgegeben.

In der prallen Mittagssonne wurden im Innenhof des Hotels Michelberger in Berlin-Friedrichshain Bier und Bratwürste gereicht. Das machte das Gekicke von Serbien gegen Deutschland halbwegs erträglich. Junge Frauen, die sich womöglich aus kalorischen Gründen von Bratwurst und Bier fernhielten, strickten in einem Tempo, das es fraglich erscheinen ließ, ob die selbstgefertigten Schals noch bis zum kommenden Winter fertig gestellt werden könnten. Immer häufiger sieht man jetzt wieder junge Frauen beim Stricken. Sie alle tun dies vermutlich nicht, um ihre Erzeugnisse auf einem Internetmarktplatz für Unikate gewerbsmäßig zu veräußern oder um ihren noch längst nicht vorhandenen Enkelkindern einen vermeintlichen Gefallen zu tun, sondern sie benötigen etwas Zerstreuung: Von 90 Minuten, die ein Fußballspiel gewöhnlich dauert, passiert in 85 Minten zumeist nichts wirklich Spannendes.

Da wäre es nicht weiter tragisch gewesen, wenn der Betreiber den Schirm noch etwas weiter vor den Fernseher gehängt hätte. Man verpasst ja doch nichts.

Den einzigen Ansatz einer Leidenschaft, die das andauernde Fußballturnier bei mir ausgelöst hat, ist das Sammeln von Team-Stickern, die sich in Duplos befinden. Mir fehlen übrigens noch die Nummern 5, 10, 12, 17, 19, 22, 24, 25, 31, 33, 38 und 42.

Über das Laufen

Dieser Text ist meinem Freund mspro, dem König aller Läufer, gewidmet.

Jogger an der Alster, Hamburg
Jogger an der Alster, Hamburg


 

„Ich jogge nicht, ich laufe Amok.“
(Hildegard Knef)

Früher hieß Jogging noch Dauerlauf. In den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erblickte Trimmy1 das Flutlicht der Welt. Das Maskottchen der Trimm-Dich-Bewegung war sozusagen das sportliche Gewissen der Nation und Gegenstück zum lässig zigaretterauchenden HB-Männchen („Wer wird denn gleich in die Luft gehen?“)2. Viele Jahre später – Trimmy ist längst in Rente und lange Zeit nach dem ewig lächelnd-federnden Fitnesspapst Dr. Strunz3 sowie dem wieder fett gewordenen Joschka Fischer4 – wird in den Wäldern und Parks der Republik noch immer gelaufen. Auch ich habe vor einigen Wochen wieder damit angefangen.

Laufen ist gesund, sagt der Mediziner (wenn man es denn richtig macht): Es beugt diversen Zivilisationskrankheiten von Bluthochdruck bis Diabetes vor, trainiert das Herz und baut ganz nebenbei auch noch ein paar überflüssige Pfunde ab. Eigentlich alles schön und gut, wäre da nicht ein Problem: Es gibt viel mehr Nach- als Vorteile.

Früher habe ich gern und gut gefrühstückt. Das Frühstück ist der größte Feind des Laufens. Macht man es sich erstmal in der trauten Zweisamkeit am heimischen Tisch bequem, so sind Milchkaffee und Croissant weitaus reizvoller als schwitzend seine Runden in einem Park zu drehen. Gleiches gilt selbstredend auch für ein gepflegtes Feierabendbier. Frühstücken und Bier trinken machen Spaß – Laufen macht keinen Spaß.

Schon die Vorbereitungen bergen ihre Tücken. Bei gemäßigten Temperaturen stellt sich die Kleidungsfrage nicht. Man greift sich die erstbeste kurze Hose und ein schlabbriges T-Shirt – fertig ist das perfekte Laufdress. Leider ist es so, dass in unseren Breitengraden bereits ab Mitte August der Winter einbricht. Will man nicht in einer Muckibude hechelnd auf einem Laufband auf der Stelle treten, so bleibt nur der Griff zur so genannten Funktionskleidung. Sie hält den trainierenden Körper auf ein angemessenes Temperaturniveau und leitet den Schweiß nach außen. Das ist zwar praktisch, sieht aber leider total bescheuert aus. Wer froh ist, dass Leggins aus den Kleiderschränken der Damenwelt verschwunden sind, oder sich gern über die wurstpellenartige Kleiderordnung von Rennradfahrern lustig macht, bekommt an dieser Stelle Probleme. Diese Art von Hose, wie sie dem Laufen bei Kälte zuträglich ist, ist einfach hässlich. Selbst Frauen mit knackigem Hintern und Männern mit nur durchschnittlich großem Gemächt sehen in ihnen so unästhetisch aus, dass man sich fragt, warum sie nicht einfach das Chronikerprogramm ihrer Krankenversicherung dem Laufsport vorziehen.

Laufen kostet Überwindung. Es beginnt schon damit, überhaupt das entsprechende Schuhwerk zuzuschnüren: Für viele Menschen wäre die Bändigung der viel zu langen Schnürsenkel bereits Sport genug. Hat man dies im Halbschlaf hinter sich gebracht, beginnt das eigentliche Elend des Läufers: Der erste Schritt ist eine Qual, der erste Meter ist eine Qual, die ersten hundert Meter sind eine Qual und auch der erste Kilometer ist eine Qual – so geht es im Prinzip weiter, bin man wieder zuhause angekommen ist. Der ungeübte Anfänger gibt bereits nach ein paar Schritten auf oder wechselt zum Nordic Walking5 – mit der Konsequenz, dass sowohl Ausrüstung als auch Ausübung dieser Aktivität noch viel schrecklicher aussehen als beim Jogging.

Dann geht es los: Man hechelt, man schwitzt, man bekommt Seitenstechen und ganz plötzlich wird man von zwei joggenden Müttern mit Kinderwagen überholt, die sich währenddessen über Kochrezepte austauschen. Man denkt sich dann: ach, und während man ach denkt und darauf wartet, dass sich die Mütter zu gegebener Zeit zur Erholung auf ihre Kinderwagen stützen, um sich ein wenig von den athletischen Anstrengungen zu erholen, und man sodann endlich wieder an ihnen vorbeiziehen kann, überholt einen zu allem Unglück auch noch ein rüstiger Rentner. Plötzlich denkt man nicht mehr ach, sondern ärgert und schämt sich nach Kräften und gibt noch einmal alles. Am Anfang einer Läuferkarriere ist das jedoch nicht sonderlich viel. Der Rentner vor einem wird immer kleiner und man redet sich ein, dass gerade ein stark beschleunigter altersbedingter Schrumpfungsprozess des Körpers zum Tragen kommt. Dies trifft natürlich nicht zu, der Senior ist einfach schneller und dann nimmt man ihn nur noch als einen winzigen Punkt am Horizont wahr. Kein Wunder, denn nur so konnte er den Krieg überleben – und außerdem hat er den ganz Tag Zeit zum Trainieren.

Aber es gibt auch Erfolge, die sich nach verhältnismäßig wenigen Trainingseinheiten einstellen: So lässt man sich von braungebrannten Muskelpaketen mit Iron-Man-Trikotagen, die nicht nur windkanalgeprüfte Sonnenbrillen sondern auch noch Pulsuhren tragen, deren Rechenkapazität noch vor wenigen Jahren diejenige ganzer Serverfarmen überstiegen hätte, nicht mehr einschüchtern. Sollen sie einen doch während einer Trainingseinheit mehrfach überrunden – sie werden niemals um den Genuss eines köstlichen Croissants oder frisch gezapften Feierabendbieres wissen, sondern ewig freudlos auf ihren Nahrungsergänzungsmitteln und Müsliriegeln herumkauen. Auch alkoholabhängige Gammler und zigarrerauchende dickbäuchige alte Männer, die einen, auf Parkbänken sitzend, spöttisch anfeuern, lernt man schnell zu ignorieren. Man muss den Wunsch, nur für diesen einen Moment mit ihnen tauschen zu wollen, einfach verdrängen und sich einreden, man tue gerade das einzig richtige.

Irgendwann jedoch müssen für das sportliche Vorankommen neue Strategien her. Urinstinkte werden wach: der Jagdtrieb. Routiniert hält der mittlerweile Fortgeschrittene Läufer Ausschau nach einem geeigneten Opfer, in dessen Windschatten es sich zu laufen lohnt. Bei Männern sind dies bevorzugt attraktive Frauen (möglicherweise auch umgekehrt). Wie ein Windhund im Rennen der Wurst hinterherrennt, läuft der bier- und croissantbäuchige Läufer der durchtrainierten Läuferin mit den Gazellenbeinen (schlank und behaart) hinterher. Diese Strategie ist anfangs sehr anstrengend und erfordert die ganze Konzentration des Läufers. Nicht nur, dass man Obacht geben muss, nicht abgehängt zu werden, sondern man darf auch nicht so sehr auf die optischen Reize seiner Pacemakerin6 fixiert sein, dass man Unebenheiten der Laufstrecke übersieht, und dabei ins Taumeln gerät. Mehr als peinlich ist es, bei der Verfolgung zu stolpern und hinzufallen. Dies ist nicht nur unangenehm, weil man dabei einen beträchtlichen Teil des Sandbodens inhaliert und sich Schürfwunden zuzieht, sondern insbesondere, weil sich die hübsche Vorderfrau umdreht und einen mitleidig anguckt. Die gesamte Laufsituation ist ohnehin schon hochpeinlich, so dass das Mitleid einer schönen Frau leicht zu einem Trauma führen könnte. In diesem Falle ist Geistesgegenwart gefragt: man muss sich unverzüglich vom Boden erheben, den Dreck abschütteln und sagen: „Das mache ich immer so.“ Danach gilt es, schnellstmöglich abzubiegen und möglichst unerkannt nach Hause zu humpeln.

Nur nach langem, harten Training kommt man über dieses Stadium hinaus. Man zieht dann an Müttern mit Kinderwagen ebenso selbstverständlich vorbei wie man läuferisch mit kriegsversehrten Senioren mithalten kann. Parkbankspötter hat man freilich genau so ausgeblendet wie hochgezüchtete Eisenmänner. Auch braucht man als Motivationshilfe keine hübschen Joggerinnen vor sich, um in einigermaßen vertretbarer Geschwindigkeit den Stadtpark zu umrunden. Das Laufen wird immer mehr zur Selbstverständlichkeit, man gewöhnt sich daran und redet sich ein, dabei auf neue Gedanken zu kommen, obwohl alle guten Gedanken bereits gedacht wurden. Man redet sich sich ein, dass das Laufen Spaß mache; ja, man wird gar eins mit der Mär vom Flow7 – und glaubt dies auch noch (ganz Hartgesottene gehen mit dieser vermeintlichen Erkenntnis sogar in ihrem Freundeskreis hausieren und werden so ungewollt zu einem irrgläubigen Missionar des Laufsports). Doch irgendwann kommen ganz unvermeidlich Übermüdungsbruch und Gelenkverschleiß. Das ist aber nicht weiter tragisch, dann hat man endlich wieder Zeit für die angenehmen Dinge des Lebens: Frühstücken und Bier trinken.

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  1. „Das Männlein, das uns Beine macht“ auf einestages
  2. Das HB-Männchen auf tv-nostalgie.de
  3. Wikipedia-Eintrag zu Dr. Ulrich Strunz
  4. Der ehemalige Außenminister Joschka Fischer schrieb einst ein Buch mit dem Titel „Der lange Lauf zu mir selbst“, in dem er über seine Lauferfahrungen berichtete. Mittlerweile hat er wieder kräftig zugenommen. Hier die Rezensionen auf perlentaucher.de
  5. Nordic Walking auf boschblog.de
  6. Wikipedia-Eintrag zu Tempomacher
  7. Wikipedia-Eintrag zu Flow

Nordic Walking

Ein Mann mit einem Nordic-Walking-Bekenner-T-Shirt der Größe XXL mit der Aufschrift „Ich glaub, ich geh‘ am Stock – Nordic Walking“ geht humpelnd, aber ohne Stock, die Straße entlang. Ein anderer Mann betrachtet ihn abschätzig. Der Humpelnde sagt: „Ich kann schlecht laufen, ich habe mir den Zeh gebrochen.“

Tagebuch eines EM-Verweigerers Teil 5: Schostakowitsch und Schluss

Eigentlich ist dies ein Beitrag für die Rubrik Leserbriefe. Da ich aber langsam beginne, mich an diese kleine Fußballserie zu gewöhnen, erscheint dieser zum Ausklang der glücklicherweise heute endenden Europameisterschaft in dieser Reihe. Das Beste am Fußball ist, dass es – wenn man von Nachspielzeiten einmal absieht – keine Zugaben gibt.

Kürzlich frug mich eine unbekannte Kommentatorin, wie mein Verhältnis zu Dimitri Schostakowitsch (1906-1975) sei. Der russische Komponist war nämlich, wie die Archive der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) und der Süddeutschen Zeitung belegen, ein großer Fußballfan. Die NZZ schreibt dazu in ihrer Ausgabe vom 23. September 2006:

Zwischen intellektueller Überlastung und den ständigen politischen Zwängen fand Schostakowitsch kaum Möglichkeiten der seelischen Entspannung. Ohne Fussball hätte er dieses Leben nicht ausgehalten, meinte seine Biografin Sofia Hentowa.

Die unbekannte Leserbriefschreiberin schreibt weiter, dass sie derzeit fasziniert von Schostakowitschs 11. Sinfonie sei, und fragt nach einem möglichen Zusammenhang zwischen Rhythmik und Fußballtaktik. In Ermangelung einer vorliegenden Aufnahme dieses Werkes weiß leider auch ich darauf keine erschöpfende Antwort zu geben. Wohl aber befindet sich in meiner bescheidenen Musiksammlung eine Gesamtaufnahme Schostakowitschs Streichquartette – die noch immer zeitgemäße und erfrischende Aufnahme des Brodsky Quartets aus dem Jahre 1989. Keine Mühen habe ich gescheut und für meine Leserschaft diese Aufnahme – insbesondere vor dem Hintergrund meines neu erworbenen Wissens um die Fußballliebe des Komponisten – einmal angehört. Das Ergebnis wird Sie möglicherweise so sehr überraschen wie es auch mich überrascht: man kann nicht hören, dass Schostakowitsch ein Fußballnarr war.

Das ist gut, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist es für einen Geistesmenschen unabdingbar, einen intellektuellen Ausgleich zu finden. Tage und Nächte sitzt der Komponist in seiner dunklen Kammer und komponiert Sinfonien, Konzerte, Suiten und Kammermusiken vor sich hin. Das ist anstrengend und irgendwie muss die ganze Anspannung, die sich dabei aufbaut, heraus aus dem komponierenden Komponisten. Da ist es immer noch besser, am Rande eines Fußballfeldes die aufgestauten Aggressionen abzubauen, indem man die eigene Mannschaft anfeuert und den Schiedsrichter beschimpft, als gelegentlich einen Amoklauf zu begehen oder sich die Venen mit Heroin vollzupumpen. Selbst in meinem Freundeskreis finden sich zahlreiche Menschen, die sich hin und wieder mit Begeisterung Fußballspiele anschauen. Auch wenn ich selbst eine Abneigung gegen diese Sportart hege, so bin ich tolerant genug, ihnen diese Vorliebe als Ventil für die Belastungen des Alltags zuzubilligen. Schließlich handelt es sich bei dieser Neigung lediglich um einen kleinen Aspekt ihrer Persönlichkeit. Dieser zeigt ganz wunderbar, dass niemand vollkommen ist – nicht einmal meine eignen Freunde. Zweitens ist es doch beruhigend zu erkennen, dass es zwischen einer einzelnen Charaktereigenschaft und dem Menschen als Ganzes keinen wirklichen Zusammenhang gibt. So kann man einerseits fußballverrückt und gleichzeitig ein talentierter Komponist sein, wie dies bei Schostakowitsch der Fall war. Auch gibt es bekannte Fälle von Fußballverrückten, die gleichzeitig ganz miserable Musiker sind, wie es die Band Sportfreunde Stiller mit ihrer Fußballhymne 54, 74, 90, 2010, aber auch viele andere zuvor eindrucksvoll unter Beweis gestellt haben.

Mit der versöhnlichen Erkenntnis, dass auch Fußballfans gute Menschen sein können, will ich dieses kleine Tagebuch beschließen – morgen ist zum Glück alles vorbei.

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