Sportforum Hohenschönhausen, Bezirk Lichtenberg. Das Gelände ist 55 Hektar groß; wenn man hier an einem Wochenendtag spazieren geht, bekommt man einen Eindruck davon, was Tristesse bedeutet. An diesem Ort denkt man zwangsläufig weniger an feierlichen Eröffnungsveranstaltungen der Olympischen Spiele, sondern eher an die Verabreichung von illegalen Substanzen zur Leistungssteigerung.
Dieser Text ist meinem Freund mspro, dem König aller Läufer, gewidmet.
„Ich jogge nicht, ich laufe Amok.“
(Hildegard Knef)
Früher hieß Jogging noch Dauerlauf. In den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erblickte Trimmy1 das Flutlicht der Welt. Das Maskottchen der Trimm-Dich-Bewegung war sozusagen das sportliche Gewissen der Nation und Gegenstück zum lässig zigaretterauchenden HB-Männchen („Wer wird denn gleich in die Luft gehen?“)2. Viele Jahre später – Trimmy ist längst in Rente und lange Zeit nach dem ewig lächelnd-federnden Fitnesspapst Dr. Strunz3 sowie dem wieder fett gewordenen Joschka Fischer4 – wird in den Wäldern und Parks der Republik noch immer gelaufen. Auch ich habe vor einigen Wochen wieder damit angefangen.
Laufen ist gesund, sagt der Mediziner (wenn man es denn richtig macht): Es beugt diversen Zivilisationskrankheiten von Bluthochdruck bis Diabetes vor, trainiert das Herz und baut ganz nebenbei auch noch ein paar überflüssige Pfunde ab. Eigentlich alles schön und gut, wäre da nicht ein Problem: Es gibt viel mehr Nach- als Vorteile.
Früher habe ich gern und gut gefrühstückt. Das Frühstück ist der größte Feind des Laufens. Macht man es sich erstmal in der trauten Zweisamkeit am heimischen Tisch bequem, so sind Milchkaffee und Croissant weitaus reizvoller als schwitzend seine Runden in einem Park zu drehen. Gleiches gilt selbstredend auch für ein gepflegtes Feierabendbier. Frühstücken und Bier trinken machen Spaß – Laufen macht keinen Spaß.
Schon die Vorbereitungen bergen ihre Tücken. Bei gemäßigten Temperaturen stellt sich die Kleidungsfrage nicht. Man greift sich die erstbeste kurze Hose und ein schlabbriges T-Shirt – fertig ist das perfekte Laufdress. Leider ist es so, dass in unseren Breitengraden bereits ab Mitte August der Winter einbricht. Will man nicht in einer Muckibude hechelnd auf einem Laufband auf der Stelle treten, so bleibt nur der Griff zur so genannten Funktionskleidung. Sie hält den trainierenden Körper auf ein angemessenes Temperaturniveau und leitet den Schweiß nach außen. Das ist zwar praktisch, sieht aber leider total bescheuert aus. Wer froh ist, dass Leggins aus den Kleiderschränken der Damenwelt verschwunden sind, oder sich gern über die wurstpellenartige Kleiderordnung von Rennradfahrern lustig macht, bekommt an dieser Stelle Probleme. Diese Art von Hose, wie sie dem Laufen bei Kälte zuträglich ist, ist einfach hässlich. Selbst Frauen mit knackigem Hintern und Männern mit nur durchschnittlich großem Gemächt sehen in ihnen so unästhetisch aus, dass man sich fragt, warum sie nicht einfach das Chronikerprogramm ihrer Krankenversicherung dem Laufsport vorziehen.
Laufen kostet Überwindung. Es beginnt schon damit, überhaupt das entsprechende Schuhwerk zuzuschnüren: Für viele Menschen wäre die Bändigung der viel zu langen Schnürsenkel bereits Sport genug. Hat man dies im Halbschlaf hinter sich gebracht, beginnt das eigentliche Elend des Läufers: Der erste Schritt ist eine Qual, der erste Meter ist eine Qual, die ersten hundert Meter sind eine Qual und auch der erste Kilometer ist eine Qual – so geht es im Prinzip weiter, bin man wieder zuhause angekommen ist. Der ungeübte Anfänger gibt bereits nach ein paar Schritten auf oder wechselt zum Nordic Walking5 – mit der Konsequenz, dass sowohl Ausrüstung als auch Ausübung dieser Aktivität noch viel schrecklicher aussehen als beim Jogging.
Dann geht es los: Man hechelt, man schwitzt, man bekommt Seitenstechen und ganz plötzlich wird man von zwei joggenden Müttern mit Kinderwagen überholt, die sich währenddessen über Kochrezepte austauschen. Man denkt sich dann: ach, und während man ach denkt und darauf wartet, dass sich die Mütter zu gegebener Zeit zur Erholung auf ihre Kinderwagen stützen, um sich ein wenig von den athletischen Anstrengungen zu erholen, und man sodann endlich wieder an ihnen vorbeiziehen kann, überholt einen zu allem Unglück auch noch ein rüstiger Rentner. Plötzlich denkt man nicht mehr ach, sondern ärgert und schämt sich nach Kräften und gibt noch einmal alles. Am Anfang einer Läuferkarriere ist das jedoch nicht sonderlich viel. Der Rentner vor einem wird immer kleiner und man redet sich ein, dass gerade ein stark beschleunigter altersbedingter Schrumpfungsprozess des Körpers zum Tragen kommt. Dies trifft natürlich nicht zu, der Senior ist einfach schneller und dann nimmt man ihn nur noch als einen winzigen Punkt am Horizont wahr. Kein Wunder, denn nur so konnte er den Krieg überleben – und außerdem hat er den ganz Tag Zeit zum Trainieren.
Aber es gibt auch Erfolge, die sich nach verhältnismäßig wenigen Trainingseinheiten einstellen: So lässt man sich von braungebrannten Muskelpaketen mit Iron-Man-Trikotagen, die nicht nur windkanalgeprüfte Sonnenbrillen sondern auch noch Pulsuhren tragen, deren Rechenkapazität noch vor wenigen Jahren diejenige ganzer Serverfarmen überstiegen hätte, nicht mehr einschüchtern. Sollen sie einen doch während einer Trainingseinheit mehrfach überrunden – sie werden niemals um den Genuss eines köstlichen Croissants oder frisch gezapften Feierabendbieres wissen, sondern ewig freudlos auf ihren Nahrungsergänzungsmitteln und Müsliriegeln herumkauen. Auch alkoholabhängige Gammler und zigarrerauchende dickbäuchige alte Männer, die einen, auf Parkbänken sitzend, spöttisch anfeuern, lernt man schnell zu ignorieren. Man muss den Wunsch, nur für diesen einen Moment mit ihnen tauschen zu wollen, einfach verdrängen und sich einreden, man tue gerade das einzig richtige.
Irgendwann jedoch müssen für das sportliche Vorankommen neue Strategien her. Urinstinkte werden wach: der Jagdtrieb. Routiniert hält der mittlerweile Fortgeschrittene Läufer Ausschau nach einem geeigneten Opfer, in dessen Windschatten es sich zu laufen lohnt. Bei Männern sind dies bevorzugt attraktive Frauen (möglicherweise auch umgekehrt). Wie ein Windhund im Rennen der Wurst hinterherrennt, läuft der bier- und croissantbäuchige Läufer der durchtrainierten Läuferin mit den Gazellenbeinen (schlank und behaart) hinterher. Diese Strategie ist anfangs sehr anstrengend und erfordert die ganze Konzentration des Läufers. Nicht nur, dass man Obacht geben muss, nicht abgehängt zu werden, sondern man darf auch nicht so sehr auf die optischen Reize seiner Pacemakerin6 fixiert sein, dass man Unebenheiten der Laufstrecke übersieht, und dabei ins Taumeln gerät. Mehr als peinlich ist es, bei der Verfolgung zu stolpern und hinzufallen. Dies ist nicht nur unangenehm, weil man dabei einen beträchtlichen Teil des Sandbodens inhaliert und sich Schürfwunden zuzieht, sondern insbesondere, weil sich die hübsche Vorderfrau umdreht und einen mitleidig anguckt. Die gesamte Laufsituation ist ohnehin schon hochpeinlich, so dass das Mitleid einer schönen Frau leicht zu einem Trauma führen könnte. In diesem Falle ist Geistesgegenwart gefragt: man muss sich unverzüglich vom Boden erheben, den Dreck abschütteln und sagen: „Das mache ich immer so.“ Danach gilt es, schnellstmöglich abzubiegen und möglichst unerkannt nach Hause zu humpeln.
Nur nach langem, harten Training kommt man über dieses Stadium hinaus. Man zieht dann an Müttern mit Kinderwagen ebenso selbstverständlich vorbei wie man läuferisch mit kriegsversehrten Senioren mithalten kann. Parkbankspötter hat man freilich genau so ausgeblendet wie hochgezüchtete Eisenmänner. Auch braucht man als Motivationshilfe keine hübschen Joggerinnen vor sich, um in einigermaßen vertretbarer Geschwindigkeit den Stadtpark zu umrunden. Das Laufen wird immer mehr zur Selbstverständlichkeit, man gewöhnt sich daran und redet sich ein, dabei auf neue Gedanken zu kommen, obwohl alle guten Gedanken bereits gedacht wurden. Man redet sich sich ein, dass das Laufen Spaß mache; ja, man wird gar eins mit der Mär vom Flow7 – und glaubt dies auch noch (ganz Hartgesottene gehen mit dieser vermeintlichen Erkenntnis sogar in ihrem Freundeskreis hausieren und werden so ungewollt zu einem irrgläubigen Missionar des Laufsports). Doch irgendwann kommen ganz unvermeidlich Übermüdungsbruch und Gelenkverschleiß. Das ist aber nicht weiter tragisch, dann hat man endlich wieder Zeit für die angenehmen Dinge des Lebens: Frühstücken und Bier trinken.
Der ehemalige Außenminister Joschka Fischer schrieb einst ein Buch mit dem Titel „Der lange Lauf zu mir selbst“, in dem er über seine Lauferfahrungen berichtete. Mittlerweile hat er wieder kräftig zugenommen. Hier die Rezensionen auf perlentaucher.de ↩
Ein Mann mit einem Nordic-Walking-Bekenner-T-Shirt der Größe XXL mit der Aufschrift „Ich glaub, ich geh‘ am Stock – Nordic Walking“ geht humpelnd, aber ohne Stock, die Straße entlang. Ein anderer Mann betrachtet ihn abschätzig. Der Humpelnde sagt: „Ich kann schlecht laufen, ich habe mir den Zeh gebrochen.“
In der Ausgabe vom 8. Februar 2008 berichtete die Süddeutsche Zeitung über einen „Strahlenangriff von der Tribüne“. Irritierende Lichtreflexe hielten plötzlich die Helden der Deutschen Fußballnationalmannschaft bei einem Länderspiel gegen Österreich vom Toreschießen ab. Bernd Schneider, Jens Lehmann, Bastian Schweinsteiger und Manuel Friedrich – allen wurde grün vor Augen. Die Moderatoren Günter Netzer und Gerhard Delling hatten sofort die passende Antwort: „Da versucht doch tatsächlich jemand mit einer Laserpistole den Schützen abzuhalten.“
Ob es einen Zusammenhang zwischen der neuen Methodik, die verdorbene Lebensmittel kenntlich macht, und der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft gibt, konnte auch das versierte Moderatorenduo nicht erklären. Möglicherweise zielten nicht fanatische Fußballfans auf die Spieler, sondern österreichische Lebensmittelkontrolleure gingen lediglich ihrer Pflicht nach.
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