Christian Kracht – Air

Ein schmales Buch, nur 200 Seiten. Und doch finden zwei Welten darin Platz. Auf der einen Seite: Manufaktum-Katalog und Kinfolk, spröde Landschaften, Sauerteigbrot, schwere Fahrräder, die richtigen Farben – Lifestyle. Auf der anderen: eine karge Fantasywelt, unwirtlich, zweidimensional, mit einem bedrohlich mächtigen Herrscher. Ein Ereignis katapultiert den Protagonisten von der einen in die andere.

Was soll das? Das Buch ist klüger als sein Autor, heißt es. Doch liest man die sich mit Deutungen überschlagenden Rezensionen (Kinderbuch, Hollywood, Science-Fiction, Modernekritik etc.), gewinnt man den Eindruck, als wollten die Rezensenten wiederum klüger sein als das Buch. Man wünscht sich sofort eine neue Poetikvorlesung von Christian Kracht – und freut sich zugleich, dass er zu all dem beharrlich schweigt. Keine Interviews, keine Podcasts, keine Talkshows.

Man will das Buch langsam lesen. Denn jede Seite ist ein Genuss. Dazu eine Scheibe frisches Sauerteigbrot, natürlich. Aschdanne – das Gemüse, das es nicht gibt – war leider nicht erhältlich.

Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben

Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben

Keiner fühlte sich wie die anderen. Die Menschen sind
doch immer zu dick, zu dünn, sie sind taub oder blind,
Contergan-Opfer, die Eltern geschieden oder Trinker oder zu
spießig, sie sind homosexuell oder sexsüchtig oder asexuell,
zu groß, zu klein, sie haben Autismus oder Epilepsie,
Herzprobleme,Schweißfüße, einen Buckel, Akne, keiner
entspricht der Norm, und selbst aus Metall gestanzte Figuren
wie Bankangestellte oder Versicherungsmitarbeiter, Anwälte
und Mitarbeiter diverser Aufsichtsräte leiden unter Blasenschwäche.
Als Teil der Welt, die doch allen gleichermaßen gehört, fühlt sich keiner.

(Sibylle Berg, „Vielen Dank für das Leben“)

Eine Sado-Maso-Schmonzette, einen Tageszeitungs-Herausgeber-Mord-Schweden-Krimi, eine Präsidenten-Gattin-Regenbogen-Biographie und ein auf Papier gedrucktes Piratinnen-Machwerk über Sex mit Pferden. Es ist nicht schön, Feuilletonist zu sein, dieser Tage. Was man alles lesen muss: ein kakophonischer Kanon.

Und dann kommt da „Vielen Dank für das Leben“ von Frau Berg. Wir kennen sie seit langem und wissen, dass wir naturgemäß von ihrem Werk an grauen Herbsttagen keine Stimmungsaufhellung erwarten dürfen, aber das wollen wir auch gar nicht, denn schließlich steht Frau Berg nicht umsonst in unserem Bücherregal neben Thomas Bernhard.

Die Hauptfigur des Romans heißt Toto, ist ungewollt und wächst in einem Kinderheim in einem östlichen Land auf. Toto ist weder Junge noch Mädchen und das ist ihm egal, aber seiner Umwelt nicht. Sein Leben lang bekommt er auf die Fresse, weil er anders ist als die anderen. Toto ist  gleichmütig. Um ihn herum ist alles schlimm. Menschen schlimm, Politik schlimm, Wirtschaft schlimm, Kunst schlimm. Manchmal singt Toto mit seiner viel zu hohen Stimme ein Lied und die Menschen lachen darüber. Alles, was es auf der Welt gibt, spielt ihr übel mit. Toto hingegen ist gut. Toto ist keine Heldin, bewältigt trotz der allergrößten Naivität irgendwie das Leben und glaubt, dass alles vielleicht noch gut werden könne, was es aber niemals wird. Alles ist schwarz-weiß, aber eben meistens doch schwarz.

Frau Berg kann schreiben, oh ja, das kann sie. Wir sollten es lesen. Vielen Dank für das Buch.

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Wolfgang Tischer vom Literaturcafé spricht mit Sibylle Berg: hier.

Tschick

Außenseiter sein, bescheuerte Eltern haben, in Mädchen verlieben, nicht zur Party eingeladen werden, Freund finden, Bild malen, alten Lada klauen, Musik hören, Wegfahren, Abenteuer erleben, fast küssen, Himbeeren essen, angeschossen werden, Unfall bauen, verhaftet werden, Ärger kriegen, nach Hause kommen, in den Pool springen.

All das und noch viel mehr ist Tschick – ein Roman Wolfgang Herrndorf. Jeder, der das Buch gelesen hat, hat es gern getan und täte es jederzeit wieder. Ich auch.

Malte Welding: Männer und Frauen passen nicht zusammen – auch nicht in der Mitte

“Liebe ist das, was übrig bleibt, wenn Sie alles,
was Sie für Geld kaufen können, aus einer Beziehung
abziehen; den Sex, die Massagen, das Kochen, all die
kleinen Dienstleistungen des Alltags, für die es auch
aushäusige Experten gäbe. Liebe ist die letzte große
Anarchistin, Liebe ist das letzte große Abenteuer.”

(Malte Welding)

„Soll ich es als Geschenk einpacken?“, fragt mich der Buchhändler. „Nein, danke. Das ist für mich.“ Während ich mit meinem neuen Buch von dannen ziehe, kann ich seinen etwas mitleidsvollen Blick spüren, den er mir hinterherwirft.

Dieser ist völlig unnötig, denn ganz anders als es der etwas reißerische Titel vermuten lässt, handelt es sich bei „Männer und Frauen passen nicht zusammen – auch nicht in der Mitte“ um kein weiteres dümmliches Sachbuch, das uns weismachen will, warum Frauen schlecht zuhören und Männer nicht einparken können. Autor Malte Welding hat offenbar nicht nur alle amerikanischen Filme und Serien gesehen, sondern ist auch sonst ein hervorragender Beobachter: Anschaulich beschreibt er in seinem Buch die zwischenmenschlichen und -tierlichen Verhaltensweisen in seinem engeren Umfeld.

Gleich zu Beginn eine Geschichte, die Hoffnung macht: Was für die Populärpsychologie Paul Watzlawicks allseits bekannte „Geschichte mit dem Hammer“ aus der „Anleitung zum Unglücklichsein“ ist, könnte für die Liebe die Karnickel-Geschichte werden. Hier findet ein scheinbar zur ewigen Einsamkeit verdammtes Kaninchen sein spätes unerwartetes Liebesglück – und das auch noch mit einer Partnerin, die weder auf den ersten noch auf den zweiten oder dritten Blick zum ihm zu passen scheint. Wenn im Zuge einer weiteren Individualisierung der Gesellschaft längst niemand mehr das Bild von zueinander passenden Töpfen und Deckeln bemühen wird, werden wir zu unseren hoffnungslosen Single-Freunden einfach sagen „denk an das Karnickel“ – und alle werden wissen, was gemeint ist.

Aber auch die Menschen haben es auf ihrem Weg zum Glück nicht immer leicht: vom karriereorientierten Unternehmensberater über die erfolglose Schauspielerin bis hin zum schwulen Nerd haben in Sachen Liebe alle ihr Päckchen zu tragen. Alle Anschauungssubjekte sind entweder kompliziert, können sich nicht zwischen zu vielen Optionen entscheiden, sind asexuel, wollen nicht erwachsen werden, streben nach Perfektion, haben Bindungsangst oder ganz andere Macken oder alles auf einmal.

Uns allen hält der Autor damit in irgendeiner Form den Spiegel vor. Das tut er äußerst unterhaltsam und oft mit spitzer Feder, aber trotzdem frei von Zynismus. Zwischendurch treffen immer wieder wissenschaftliche Erkenntnisse auf gesunden Menschenverstand und kluge Zitate sowie amüsante Checklisten zur kritischen Selbsteinschätzung. Auch der Untertitel „Warum die Liebe trotzdem glücklich macht“ fällt dabei nicht unter den Tisch.

Dieses Buch möchten wir gern unserer Lieblings-Ex-Freundin anonym in den Briefkasten legen, um es gleich danach noch einmal für uns selbst zu kaufen.

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In Malte Weldings Blog finden sich einige Auszüge und Hörproben aus dem Buch.

boschblog.de
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