Kein Third Wave, kein Flat White, keine Internetforen, in denen um die Nachkommastelle der Espresso-Shot-Menge diskutiert wird; keine goldene Kaffeemaschine mit limitierter Auflage, keine Raketentechnik und keine Philosophie.
Seit über fünfzig Jahren brühen die Casals in der Kleinstadt nun schon Cappuccino. Jedes Mal fragen sie, ob man ihn mit Sahne oder Milchschaum möchte. Letztere verzieren sie stets etwas ungelenk mit einem verkrüppelten Herz aus Kakaopulver. Ich mag die unaufgeregte Art der Kaffeezubereitung und doch vermisse ich zuweilen das Bohei der großen weiten Welt.
Trotz Menschen an einem sonnigen, aber kühlen Sonntagnachmittag im Herbst spazieren gehen. Der Luftschöpfung wegen etc. Rostiges Stahl ragt in den blauen Himmel, um der einstigen Teilung der Stadt zu gedenken. Ein kurzer Abstecher in die überfüllte Kaffeerösterei, die nach eigenen Angaben im Besitz der Wahrheit ist – veritas nostra est. Eine gefühlte Ewigkeit auf die Wahrheit warten, der Andrang ist groß, alle wollen sie, naturgemäß. Die Wahrheit wird hübsch verziert serviert, viel hübscher als man es von der Wahrheit hätte erwarten können. – Der Kaffee ist gut. „Don’t die Before Trying“ steht auf dem Schild an der Fassade des Coffeeshops. Ich hake diesen Punkt auf meiner To-do-Liste ab.
Hinter der Musik,
totes Kapital.
Warten auf den Kick,
bring das Ding nochmal.
(Jochen Distelmeyer)
Wer kennt das nicht? Man setzt sich ins Café und erfreut sich am Espresso. Frisch gemahlene Bohnen, professionelle Zubereitung mit der großen glänzenden Handhebelmaschine, die dickwändige Tasse ist vorgeheizt und die Crema perfekt. Doch plötzlich ertönt aus den Lautsprechern sogenannte Musik und man fragt sich, wieso nicht alles so gut sein kann wie Kaffee, und warum – wo es doch mittlerweile für jegliche Petitesse professonelle Unterstützung gibt – keine Kaffeehausmusikberater zur Stelle sind. Mit Blick hierauf ein offener Brief von mir:
Liebe Gastronomen,
folgende Langspielplatten wollen wir in Euren Räumlichkeiten nie wieder hören:
Yann Tiersen – Die fabelhafte Amélie [OST] (in französischen Cafés.)
Buena Vista Social Club – Buena Vista Social Club [OST] (in kubanischen Bars)
Peter Fox – Stadtaffe (in Berlin – und in der Provinz)
Nouvelle Vague – Nouvelle Vague (in „Lounges“)
Norah Jones – Norah Jones (in Jazz-Cafés)
Jack Johnson – Jack Johnson (in künstlichen Strandbars)
Diverse – Sommer vorm Balkon [OST] (in Prenzlauer Berg und Städten mit Schlagermove)
Wir sind Helden – Die Reklamation (und alle anderen Platten, überall)
Paul Kalkbrenner – Berlin Calling [OST] (in Cafés von psychiatrischen Kliniken)
Ich sitze in dem Café mit den großen Fensterscheiben, als eine Bekannte ihr kaputtes Fahrrad vorbeischiebt. Wir winken einander zu, sie kommt herein und setzt sich zu mir. Alsbald erzählt sie mir von den Vorzügen des Reisens: drei Wochen weilte die Bekannte gerade ohne Spanischkenntnisse allein in Kolumbien. Ein wenig bewundere ich sie für ihren Unternehmungsgeist.
Für mich spielte das Reisen nie eine besonders große Rolle: In meiner Kindheit war es aus familiären Gründen nicht möglich, später hat es sich mir nie wirklich erschlossen. Ganz im Gegenteil: Wenn ich ganz neu an einem Ort ankomme, verspüre ich so etwas wie einen Ortswechselschock – eine Art innere Unruhe. Diese hält in der Regel mehrere Tage an, bis ich mich mit meiner neuen Umgebung vertraut gemacht habe. Erst wenn ich weiß, wo es das Frühstück, einen guten Kaffee und eine Tageszeitung gibt, wie der öffentliche Nahverkehr am Urlaubsort funktioniert, oder wo ich einen Internetzugang habe, etc., kann ich langsam damit beginnen, mich ein wenig zu entspannen. Meistens ist dann aber der gebuchte Urlaub bereits wieder vorbei. Insbesondere Rundreisen wären für mich daher völlig undenkbar.
Die Bekannte fragt mich, wohin meine bislang weiteste Reise ging. Ich tue, als müsse ich nachdenken, dabei habe ich Europa nie verlassen: Vor vielen Jahren weilte ich einmal im Januar für zehn Tage auf Fuerteventura. Allerdings handelte es sich um eine eher unfreiwillige Reise zu einer Art Tagung.
„Fahr doch mal ein paar Tage weg, entspanne dich“, lautet häufiger der gutgemeinte Rat von Freunden. Aber was soll schon woanders anders sein – von der Räumlichen Umgebung einmal abgesehen? Ich kann das nicht; lieber bleibe ich ein paar Tage in Hamburg oder Berlin, vertrödele den Tag im vertraueten Umfeld, gehe dort frühstücken, wo es den besten Käse und den leckersten Cappuccino gibt, und anschließend vielleicht in eine Ausstellung. Alles Dinge, die ich an einem Urlaubsort womöglich auch täte – nur ohne ein gezwungenes Wegfahren um des Ortswechsels willen. Und vor allem ohne Ortswechselschock.
Nur sehr wenige Male hat man es in den letzten Jahren geschafft, mich zu einer Urlaubsreise zu bewegen: nach Rügen, Madeira und sogar nach Bayern. Erst einmal am Ziel angekommen, war es dann auch immer ganz schön. – Allerdings war dies sicher auch immer ein großes Stück weit der angenehmen vertrauten Begleitung geschuldet. (Selbst die reiselustige Bekannte gab zu, dass das Alleinreisen für sie kein Ideal sei.)
Warum diese langweilige Reisegeschichte aufschreibe? Das obige Foto habe ich zufällig gerade auf meinem Rechner wiedergefunden – ich wollte es gern veröffentlichen, aber nicht so ganz für sich allein stehen lassen.
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