Peter Handke: Antiquariat und Film

Peter Handke, Der Hausierer

Im Antiquariat brennt noch Licht, obwohl es bereits spät ist. Ein Touristenpaar verirrt sich hinein, ich folge ihnen, der kundige ältere Herr in dem Neuköllner Ladengeschäft empfiehlt ihnen dieses und jenes.

Kürzlich habe ich den Dokumentarfilm Bin im Wald. Kann sein, daß ich mich verspäte. gesehen. In den sehr langen Einstellungen passiert erfreulich wenig: Peter Handke putzt Pilze, fädelt Fäden ein (ungeschickt), sägt einen Ast, serviert Suppe, liest Zeitung, hämmert auf einer mechanischen Schreibmaschine, sitzt vor dem Haus (barfuß), spitzt einen Bleistift, geht spazieren (Paris). Dabei bekommt man einen Einblick in die Gedankenwelt des Schriftstellers („Wie das geht, mein lieber Herr. Was ist Prosa? Weiß man nicht, wie’s geht. Man hat irgendwas in sich.“) Das war schön. Jedenfalls so schön, dass ich wieder Handke lesen möchte.

Im Antiquariat ergreiffe ich einen dünnen Band – Der Hausierer. „Macht einen Euro“, sagt der Antiquar. Ich antwortete, dass das zu wenig sei und handle den Preis auf zwei Euro hoch. Zu Hause angekommen lege ich das Buch auf den Stapel der ungelesenen Bücher (hoch).

Villa Savoye

Mal rauskommen aus der Stadt. Schließlich kann man nicht jeden Tag immer nur den Eiffelturm bestaunen. Also mit dem RER in den Nordwesten nach Poissy fahren und eine Ikone besuchen.

In dem kleinen Ort 32 Kilometer von Paris entfernt gibt es sonst nicht viel: eine Seineschleife, eine romanische Kirche und eine Autofabrik. Kein Wunder also, dass die wenigen Touristen, die hierher finden, zur Villa Savoye pilgern.

Nach einem knapp halbstündigen Fußmarsch vom Bahnhof erreichen wir das architektonische Dokument der Moderne. Mitten auf einer grünen Wiese steht sie da, die weiße, von 1928-31 erbaute Villa, entworfen von Le Corbusier und seinem Vetter Pierre Jeannerret.

Nirgendwo sonst konnte der Meister seine Fünf Punkte zu einer neuen Architektur so konsequent umsetzen wie hier: Pfosten, Dachgarten, freie Grundrissgestaltung, Langfenster, freie Fassadengestaltung – alles da. Nach einer bewegten Geschichte zählt das Gebäude seit 2016 zum UNESCO Weltkulturerbe.

Wenn die Sonne scheint möchte man den ganzen Tag mit Baguette, Käse und Wein im Garten sitzen und auf das Gebäude starren. Weil hier alles so schön ist und auch, weil das Baguette, der Käse und der Wein so gut schmecken. Die Villa kann das ganze Jahr über besucht werden. Und das sollte man auch tun. Am besten jeden Tag.

Kraftwerk, Düsseldorf, 1. Juli 2017

Johann Sebastian Bach, Charlie Parker, The Beatles, Kraftwerk. Wirkliche Innovationen sind auch in der Musik überschaubar. Es wird immer weitergehen. Musik als Träger von Ideen.

Düsseldorf, 1. Juli 2017, Grand Départ. Zum ersten Mal seit 30 Jahren startet das wichtigste Radrennen der Welt auf deutschem Boden. Ich interessiere mich nicht für Radrennen und bin – zugegeben – kein riesengroßer Fan von Kraftwerk. Ralf Hütter, der Gründer der Kapelle, ist Radsportfan, genau wie seine Mitstreiter. Kraftwerk, Tour de France, Düsseldorf. Pulsfrequenz im Härtetest. Der Körper ist jetzt sattelfest.

Vier ältere Herren in großkarierten hautengen Ganzkörperanzügen stehen hinter Pulten und drücken auf Knöpfe oder tun so, als drückten sie auf Knöpfe. Was machen die da eigentlich, Live-Konzert oder Performance? Es ist egal, man kann sich der Musik nicht entziehen, 15.000 Menschen im Ehrenhof vor dem NRW-Forum mit 3-D-Brillen wippen im Takt zur Musik. Ich bin der Musikant mit Taschenrechner in der Hand. Die Show: Beeindruckend.

„Interpol und Deutsche Bank, FBI und Scotland Yard
Finanzamt und das BKA, haben unsere Daten da. Nummern, Zahlen, Handel, Leute“, heißt es im Song Computerwelt von 1981 (!). Wie visionär das alles war, lange bevor überhaupt irgendwer an Big Data gedacht hat. Aber auch alles andere: Rendezvous auf den Champs-Elysées.Verlass Paris am Morgen mit dem T.E.E. Der Trans Europa Express verbindet den Kontinent – dass Europa womöglich gerade wieder zerfällt war 1977 nicht abzusehen – und Radioaktivität lässt auch Fukushima nicht unerwähnt.

Zugabe: Die Roboter. Auf der Bühne jetzt: Die Kraftwerk-Roboter. Wir funktionier’n automatik. Jetzt woll’n wir tanzen mechanik. Wir sind die Roboter. Alles mit ziemlich viel Bass und ganz fabelhaften 3-Videos. Man möchte immerzu hören und gucken. Musique Non-Stop.

Wir haben mit etwas Glück VIP-Karten für das Konzert ergattert. Düsseldorf ist klein. Neben uns stehen Andreas Gursky und der Oberbürgermeister. Aber wo sollten Andreas Gurky und der Oberbürgermeister auch sonst hingehen an einem Abend wie diesen? Freibier und -bratwurst gibt es nur für Gäste des Hauptsponsors, also für fast alle bis auf uns. Zum Glück verteilt der Bürgermeister sehr großzügig seine letzten Getränkegutscheine. Boing Boom Tschak!

Wir lernen einen alten Weggefährten der Band kennen und erfahren von ihm zahlreiche sehr intime Kratwerk-Details über die der öffentlichkeitsscheue Ralf Hütter jedoch niemals sprechen würde. Unter anderem wissen wir jetzt, wo sich Ralf Hütter gern zum Kaffeetrinken verabredet. Ich behalte dies und alles andere für mich. Warum sollte ein Beatle der Elektromusik – so bezeichnete sie einst die New York Times – nicht auch an einem absurden Ort Kaffeetrinken gehen können; wie ein ganz normaler Einundsiebzigjähriger? Was im VIP-Bereich passiert, bleibt im VIP-Bereich. Bloggerehrenwort.

Ich kann nicht anders: Ich bin jetzt doch ein bißchen Kraftwerk-Fan. Gute Nacht, auf Wiedersehen, bei der Tour de France Düsseldorf – Paris!

This You

Dies ist keine Übung, dies ist keine Performance. Dies ist eine „konstruierte Situation“, so der deutsch-britische Künstler Tino
Sehgal (*1976).

Ein Mensch schlendert durch den schönen Garten der Fondation Beyeler. Am Wegesrand unter einem Baum steht eine Dame. Die Dame erblickt den Flaneur und erhebt ihre Stimme. Gänzlich unerwartet singt sie eine kurze Sequenz eines von ihr frei gewählten Liedes.

 

„Du hast den Farbfilm vergessen“ trällert sie für den Herrn mit dem Fotoapparat, „I just called to say I love you“ säuselt sie für die Dame, die in ihr Telefon spricht, und „Who let the Dogs out“ bellt sie dem Mann mit Hund entgegen etc.

Das vorgetragene Lied passt jeweils zur vorbeigehenden Person. Der Gesang dauert nur wenige Sekunden, der Fußgänger legt dabei einen Weg von etwa fünfzig Metern zurück. Sobald der Spaziergänger die Sängerin passiert, sagt sie: „This You, Tino Sehgal, 2006“ – und das war’s auch schon.

Wenn Sie jetzt denken „Spoileralarm! Den Weg nach Basel spar ich mir“, dann verpassen sie trotz meiner Beschreibung so gut wie alles. Insgesamt acht Interpretinnen teilen sich die Arbeit im Zweischichtbetrieb. Vier von ihnen durfte ich belauschen und kann verraten, dass es erst so richtig interessant wird, wenn der Gesang verstummt.

Manche gehen teilnahmslos vorbei. Andere stimmen ins Lied ein. Manche Tanzen, andere bleiben stehen. Einige freuen sich, andere sind ratlos. Ein älterer Herr erzählt, dass er die Sängerin aus der Ferne vom Restaurant aus beobachtet hat, und sich frug, ob es sich um eine „Bordsteinschwalbe“ handle. Man möchte dann stundenlang auf der Bank daneben sitzen und den Reaktionen der Passanten zusehen. Ich habe das mehrfach getan – und würde es jederzeit wieder tun.

Alles ist flüchtig, man muss es selbst erleben. Bis zum 12. November 2017 ist die Serie von sechs aufeinanderfolgenden Präsentationen zu erlebbar. Am besten natürlich bis zum 1. Oktober. Bis dann ist noch die wunderbare Wolfgang-Tillmans-Ausstellung in den Räumen der Fondation zu sehen.

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch die freundliche Einladung zu einer Bloggerreise. Vielen Dank an die Fondation Beyeler.