Herbst 2008

Wenn du und das Laub wird älter
und du merkst, die Luft wird kälter
und du fiehlst, daß du bald sterbst
dann is Herbst

(Dieter Hildebrandt)


„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“, dichtete Rainer Maria Rilke im Jahre 1902. Und sinnierten wir bis vor kurzem bei diesen Zeilen noch über die Zeit des Überganges zwischen Sommer und Winter, gar die Zeit der Ernte, so weist uns das vor uns auf dem Tisch liegende, welkende Handelsblatt schonungslos auf die fortdauernde Immobilienkrise hin.

Über den Herbst habe ich bereits im vergangenen Jahr alles geschrieben, was zu schreiben ist. In diesem Jahr gibt es darum auch nur einige Bildimpressionen von mir. Falls ich im kommenden Jahr den Chlorophyllabbau in den Blättern noch miterleben sollte, komponiere ich vielleicht eine passende Kantate.

Warenwelten #5: Der Luftzieh

Der Versuch des Kaufs einer Jacke kann einem den gesamten Tag verderben. Erst nach einer mehrstündigen erfolglosen Hatz durch die Innenstadt wird mir bewusst, dass dagegen der Einkauf in einer Discounterfiliale eine geradezu entspannende Wirkung entfalten kann. Berauscht von der erfreulichen Tatsache, dass wieder einmal eine streng limitierte Auflage der von mir so sehr geliebten Zartbitter-Duplos erhältlich ist, reihe ich mich mit der Gewissheit, dass dieser schaurige Einkaufstag doch noch ein gutes Ende nehmen könnte, in die Warteschlange ein.

Von der anderen Seite kommend, wendet sich plötzlich ein dicker, schwitzender Mann an die resolute Kassiererin und hält ihr eine Tüte geriebenen Käse vor die Nase. „Was ist damit?“, fragt die Kassiererin. „Schimmel“, antwortet der Mann. Die Kassiererin nimmt den Beutel in die Hand und betrachtet ihn kritisch von allen Seiten, bis sie dem Mann – wie aus der Pistole geschossen – das Ergebnis ihrer Untersuchung mitteilt: „Das ist der Luftzieh.“

Weder Google noch die Wikipedia kennen „den Luftzieh“, dabei ist sein Klang doch viel sympathischer als das Wort „Schadschimmel“.

Hausmitteilung Nr. 5: Ich fang nochmal an …

Berlin, Berlin, Berlin. Hier werden kleine Eisbären groß gezogen und vormals große Banken gerettet. Aber nicht nur das; die Hauptstadt kann noch viel mehr. Kein Wunder also, dass hier in Kürze auch die zweite Twitterlesung stattfinden wird. Meine Twitkritkollegen (und auch ich ein bißchen) werden im Rahmen der Neuköllner Lesebühne „Ich fang nochmal an …“ einen bunten Strauß Twitteraturblüten binden. Diesmal zwar ganz ohne Bachmann- und Grimmepreisträger, dafür im Anschluss aber mit Bier und Wein.

Außerdem werden wir einen neuen Rekord aufstellen: es wird die wohl vermutlich kürzeste Twitterlesung aller Zeiten werden. Wir haben bei der Vorbereitung keine Mühen gescheut, um bei unserem zweiten Anlauf die vorgelegte Drei-Stunden-Marke deutlich zu unterbieten. Am 16.10.2008 um 20:30 die geht es los. Wir sehen uns im Ori, Friedelstraße 8, Nähe U-Bahnhof Hermannplatz.

Und wer jetzt denkt, in Hamburg ginge gar nichts, der irrt. Nach einigen passablen Gastauftritten haben sich Sven und Stefan dazu entschlossen, mich in den erlesenen Kreis der Podcaster aufzunehmen. Daher treffen wir uns fortan in unregelmäßigen Abständen, um unwichtige Dinge zu besprechen. Die Tondokumente unserer Zusammenkünfte stellen wir dann auf der Seite Hamburger zum Mittag in das weltweite Netz. Dort kann man unsere jeweils aktuellen Produktionen dann entweder direkt anhören, abonnieren oder ignorieren.

Lungenentzündung


Das Wohlbefinden des Autors verhält sich genau entgegengesetzt zur Umsatzentwicklung seines Apothekers.

Eine der vielen Erkenntnisse, die ich aus meiner Zivildienstzeit mitgenommen habe, waren die Worte des alten Grantlers, der so stark an Asthma litt, dass er jeweils nach zwei Schritten des Gehens eine fünfminütige Atempause einlegen musste: „Weißt Du was, bosch“, verriet er mir eines Tages, als er wieder einmal nach Luft rang, „keine Luft mehr kriegen ist schlechter als kein Geld mehr haben.“

An diese weisen Worte denkend, tauschte ich nach Konsultation meiner Hausärztin, die ebenfalls mit aufmunternden Weisheiten nicht geizte („Seien Sie froh, dass Sie noch jung sind und ein kräftiges Immunsystem haben. Als alter Mensch wären Sie nun vielleicht gestorben.“), in der Apotheke meines Vertrauens einen dreistelligen Betrag gegen die modernen Errungenschaften der Pharmaindustrie ein.

Mein Lieblingsmedikament ist Seretide, das in einer formschönen Verpackung namens „Diskus“ dargereicht wird. Bei näherer Betrachtung erschließt sich sofort, warum dieses Mittelchen mit weit über 70 EUR zu Buche schlägt – es handelt sich um ein kleines Designwunderwerk, das den Vergleich mit keinem Parfümflakon zu scheuen braucht. 80% der Kosten werden vermutlich direkt an den Entwickler der Verpackung weitergeleitet. In der Bedienungsanleitung heißt es: „Wenn Sie Ihren Seretide 50 µg/250 µg zum ersten Mal aus der Faltschachtel nehmen, ist er in geschlossener Stellung. Der Diskus erhält innen einen Blisterstreifen, der in Blisternäpfen Seretide als einzeldosiertes Pulver enthält. Am Diskus befindet sich ein Zählwerk, das Ihnen zeigt, wie viele Einzeldosen noch übrig sind. Es zählt bis 0 und die Zahlen 5 bis 0 erscheinen in ROT, um Sie darauf hinzuweisen, dass nu noch ein paar Einzeldosen übrig sind. Wenn das Zählwerk eine 0 anzeigt, ist Ih Inhalationsgerät leer (ist das Pulver aufgebraucht).“ Die Anwendung ist zwar simpel, wird aber in der Gebrauchsinformation des Herstellers höchstkompliziert erklärt.

Heute sterben Menschen mit einer Pneumonie nicht mehr an fehlenden Behandlungsmethoden, sondern womöglich nur noch an mangelndem Verständnis von Inhalationsgerätsgebrauchsanweisungen. Das ist dann medizinischer Fortschritt.