Hochfelln, 8. August 2010.
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München, ehemals Weltstadt mit Herz. Mal auf den Spuren König Ludwigs I., mal im Jüdischen Museum. Worte, die ich hier immer wieder sage, weil sie gut klingen, meine jeweilige Begleitung aber fast in den Wahnsinn treiben: mal Hacker-Pschorr, mal Oachkatzlschwoaf. Immer Sonnenschein, Surfer auf der Eisbachwelle und Bier im Englischen Garten etc.
Ich denke, dass alles immer so weitergehen müsse, aber das tut es naturgemäß nicht.
Über die zufällige Wahl seines Platzes in dem Café, das er nur gelegentlich zu besuchen pflegte, war er sehr froh gewesen. Stundenlang hätte er der Frau gegenüber beim Trinken ihres Pfefferminztees zuschauen können. Obwohl sie noch jung war, ergraute ihr ansonsten dunkles Haar an einigen Stellen bereits im Ansatz. Man bemerkte dies jedoch nur, wenn man ganz genau hinsah. Ihm gefiel das dezente Frühergrauen, denn es erinnerte ihn an eine Dame, in die er vor langer Zeit einmal verliebt gewesen war.
Wie üblich blätterte er, während er seinen Cappuccino genoss, in der Zeitung. Sein Blick wanderte dabei unwillkürlich immer wieder zu der Frau gegenüber. Ihr schien das nicht unangenehm zu sein. Wenn sich ihre Blicke trafen, lächelten sie einander etwas verlegen zu, um sogleich wieder abzuschweifen. Dies geschah mehrmals hintereinander — eine Flirtsituation war eingetreten.
Als er jedoch unerwartet bei seiner Zeitungslektüre in einer Reportage über den schleichenden Niedergang des Kreiswehrersatzamtes im oberbayerischen Traunstein über die Wortkombination „dekorativer Eispickel“ stolperte, war er so verstört, dass er daraufhin seine Zeitung zusammenfaltete und das Café umgehend verließ.
Was ist demnach das beste Rezept für ein Erdenleben
überhaupt, oben wie unten?: ‚Aufs Dorf ziehen. Doof sein. Rammeln. Maul halten.
Kirche gehen. Wenn n großer Mann in der Nähe auftaucht, in n Stall verschwinden:
dahin kommt er kaum nach!
Wenn sie jung sind, dann wollen sie möglichst schnell weg aus den Dörfern, Klein- und Vorstädten, in denen sie aufgewachsen sind. Sie wollen nach Berlin oder Hamburg, von mir aus aus nach München oder Köln, um ihre Pläne zu verwirklichen. Obwohl die allermeisten Stadtbewohner von irgendwo her gekommen sind, blicken sie bereits nach kürzester Zeit ganz selbstverständlich mit einer gewissen Arroganz der Großstadt auf das Leben in der Provinz. Im Urbanen haben sie so sie so viele Möglichkeiten, die das Land nicht bietet: Sie können Theater, Museen und Konzerte besuchen, was sie jedoch nur sehr selten tun. Ich auch.
Ich fahre nicht sonderlich gern in den Urlaub. Aus Gründen hat mich im vergangenen Jahr meine weiteste Reise ausgerechnet nach Bayern gebracht. Vom Freistaat kennt man als Nordlicht normalerweise gerade einmal München (Oktoberfest) und vielleicht noch Nürnberg (Christkindlmarkt) – nun aber bin ich in der allertiefsten oberbayerischen Provinz gelandet. Zu meiner Überraschung empfinde ich es viel weniger schlimm als gedacht, obwohl sogar die jüngeren Menschen hier so Bayerisch sprechen, dass sie kaum zu verstehen sind. Zunächst dachte ich, sie könnten sich ruhig etwas bemühen, wenigstens mit mir ein bißchen hochdeutscher zu sprechen, aber sie tun es einfach nicht. Vielleicht wollen sie nicht, vielleicht können sie auch ganz einfach nicht. Obwohl es mich einige Anstrengung kostet, gewöhne ich mich nach ein paar Tagen daran, und finde Gefallen an der Übung der Aussprache des Wortes „Oachkatzlschwoaf“, was meine Begleitung zunehmend nervt, deren Mutter aber irgendwie zu amüsieren scheint. Letztere kocht mir zur Belohnung für meine Bemühungen um die bayerische Sprache den allerbesten Schweinsbraten mit Knödel, den ich je gegessen habe. Von der Kruste träume ich heute noch.
Möglicherweise ist es mein verklärter Blick des Besuchers oder das gute Weißbier aus der kleinen Lokalbrauerei, das wir täglich aus historischen dickwändigen Gläsern trinken: Die Menschen hier machen einen zufriedenen Eindruck. Die Söhne der Familie sind in der freiwilligen Feuerwehr aktiv und pumpen in der Nachbarschaft überflutete Keller ab, man hat hinter dem Haus eine eigene Fischzucht (vom Großvater geerbt), gewinnt seinen Strom aus der Kraft des Wassers des am Haus vorbeifließenden Baches und man ist gegen die Verschandelung des schönen Isentals durch den Bau der Autobahn A94. Zum ersten Mal beginne ich zu spüren, dass das Konservative durchaus auch sympathische Züge haben kann.
Wir besuchen ein Dorffest, für das wir zunächst 20 km übers Land fahren müssen: Die meisten Besucher kennen einander hier von klein auf an, zuweilen trägt man Lederhosen und Dirndl, Jung und Alt sitzen im Bierzelt bei Blasmusik zusammen, der Kellner stellt einem unaufgefordert eine neue Maß hin und die Brezen sind riesig. Insgeheim hoffe ich auf eine bierselige Keilerei mit zünftigen Watschen um die Gunst der Schönsten des Dorfes, aber die Jüngeren stehen entspannt am Autoscooter, während die Verliebten ihrer Holden an der Schießbude Blumen und kleine Stofftiere ergattern.
Alles scheint einfacher zu sein als in der Stadt, mag man denken, was sicher nicht richtig ist, aber in diesem Moment so wirkt: man heiratet, bekommt Kinder und zieht in ein Haus mit Garten. Die Menschen, die hier leben, sind alle angekommen, obwohl die meisten von ihnen niemals weg waren. Alle sind irgendwie geerdet, alles geht seinen geregelten Gang – und plötzlich frage ich mich, ob ein Leben auf dem Lande möglich ist. Immerhin gibt es dort mittlerweile nahezu flächendeckend schnelle Breitbandverbindungen ins Internet.
Zurück in der Großstadt verwerfe ich diesen Gedanken schnell wieder. Schließlich hat auch meine Begleitung gute Gründe, warum sie der vermeintlichen Landidylle den Rücken kehrte. Das beste Rezept für mein Erdenleben ist es wohl eher nicht, aufs Dorf zu ziehen, auch wenn Arno Schmidt dies einst behauptete. Aber der war ja irgendwie auch verrückt. (Trotzdem wäre ich gern noch einmal nach Bayern gefahren – für ein paar Tage.)