Freischwimmer

Freischwimmer, Berlin

Mein Tagebuch liest sich,
als ob der Autor 17 wär.
Am Tag, an dem du gingst,
verwelkte deine Rose.
Fatalerweise ist das wahr.
Leben ist trivial.

(Erdmöbel)

Es ist ein warmer Sommertag in Berlin und meine Begleitung ist aus Gründen meinetwegen zu recht etwas verdrießlich. Mit leeren Mägen ziehen wir durch Kreuzberg und landen nach einer Weile in einem Lokal direkt am Wasser. Die Bedienung lässt uns verhältnismäßig lange warten, versprüht Freundlichkeit nur in homöopathischen Dosen und das uns kredenzte Frühstück bewegt sich geschmacklich im unteren Mittelfeld. Obwohl vor dem Steg vereinzelt tote Fische an der Oberfläche des Wassers treiben, schenkt meine Begleitung mir an diesem widrigen Tag noch einmal ihr schönstes Lächeln.

Tischtennis

Humannplatz, Berlin-Prenzlauer Berg

Während meine Begleitung eine der Sportlichsten ist, scheitere ich bei Trivial Pursiut an den Fragen der Kategorie Orange. Lediglich im Tischtennis habe ich den Hauch einer Chance gegen sie. Dies allerdings nur, weil ich noch immer von den geschickten Aufschlagsvarianten mit viel Seitendrall profitiere, die ich in meiner Jugend erlernte, in der ich diese Rückschlagsportart einst in der Kreisliga ausübte.

Häufig gehen wir im Sommer zu der Betonplatte im Park nebenan. Obwohl sie viel weniger Freude am Tischtennis hat als ich, springt sie über ihren Schatten und tut dies mir zum Gefallen. Später wird mir klar, dass ich dies umgekehrt hätte auch häufiger machen sollen. Warum nicht einfach mal zusammen Laufen gehen oder sogar ganz verrückte Dinge wie Tanzen? Mit ihr wäre das alles sicher ganz schön gewesen; aber meine Angst, dass sie mir davon liefe oder ich auf dem Parkett eine zu ungelenke Figur machte, war zu groß.

Ausgerüstet mit unserem Tischtennisequipment, zu dem neben zwei recht miesen Schlägern und einem oft willkürlich abspringenden Ball immer auch zwei Flaschen Augustiner Helles gehören, suchen wir die Sportstätte unseres Vertrauens auf. Die Platte ist jedoch bereits belegt: eine größere Gruppe junger Männer spielt Rundlauf. Wir lassen uns gern dazu einladen; kommen aber beide meist nicht besonders weit, da zwei der Spieler die Kunst des Schmetterns beherrschen, was übrigens früher – als Tischtennis noch Ping Pong hieß – wegen der möglichen Verletzungsgefahr verboten war. Es ist nicht schlimm, vorzeitig aus dem Turnier zu scheiden, gibt dies uns doch die willkommene Gelegenheit, an diesem heißen Tag ein Schluck kühles Bier zu trinken.

Aus dem Nichts heraus gesellt sich ein Mädchen mit einem Dosenbier in der Hand zu der Runde. Sie macht einen desolaten Zustand; spricht sehr leise und undeutlich. Natürlich lassen wir sie mitspielen. Die Regeln des Spiels scheint sie nicht zu verstehen oder sie sind ihr ganz einfach egal: Den Schläger hält sie wie einen Hammer und den Ball lässt sie stets zuerst auf ihrer eigenen Tischhälfte aufprallen (außer beim Aufschlag); macht sie einen Fehler, dann stellt sie sich – als ob nichts gewesen wäre – einfach auf der anderen Seite des Tisches wieder an. Sie sagt, sie habe Borreliose und etwas Bewegung täte ihr gut. Alle sind irritiert von dem merkwürdigen Verhalten des Mädchens, aber keiner traut sich, etwas zu sagen. Wir tauschen ratlose Blicke aus, dennoch besteht die stillschweigende Einigkeit, das Mädchen einfach gewähren zu lassen. Irgendwann später zieht das Mädchen mit dem Zeckenbiss wortlos von dannen. Mir tut sie leid, aber wie die anderen sicher auch, bin ich ein bißchen froh, dass das Spiel nun ganz normal weitergehen kann.

Ein paar Wochen später schenkt mir meine Begleitung zum Geburtstag ein Set besserer Schläger, mit denen wir sicher die eine oder andere Runde hätten erfolgreicher bestreiten können; im Winter wollten wir in der Halle spielen. Die neuen Schläger habe ich nie ausgepackt.

Spazierengehen

Mauerpark, Berlin-Prenzlauer Berg, 2. Januar 2011
Mauerpark, Berlin-Prenzlauer Berg, 2. Januar 2011

Gedanken wollen oft  – wie Kinder und Hunde –,
dass man mit ihnen im Freien spazieren geht.

(Christian Morgenstern)

Eine Sache, die das Leben in nahezu jeder Situation ein wenig besser machen kann, ist Spazierengehen. (Außer man hat sich gerade ein Bein gebrochen.)

Die kleinste Zelle von Heimat

Die kleinste Zelle eines Wortes ist ein Buchstabe. Die kleinste Zelle von Musik ist ein Ton. Die kleinste Zelle von Stammheim ist die Nummer 7 (oder Nummer 8). Was aber ist die kleinste Zelle von Heimat?

Planet Erde, Europa, Deutschland, Hamburg oder Berlin, Winterhude oder Prenzlauer Berg, eine Straße, ein Café, ein Sofa. Was ist die kleinste Zelle von Heimat? Ich begebe mich auf die Suche nach ihr. Zunächst das Naheliegende: Suchanfrage im Internet. Kein Ergebnis. Kann es etwas geben, das es nicht auf Google gibt? Die Maschine schlägt vor: „Die kleinste Zelle im Menschlichen Körper.“ Ich will keinen Körper, ich will Heimat.

Tage später, Hamburg, 12.17 Uhr. Es klingelt an der Tür. Seit über drei Stunden warte ich darauf, dass es klingelt. Endlich ist es so weit: der Heizungsableser ist da. Heimat ist da, wo man auf den Heizungsableser wartet, denke ich. Aber sofort schießt es mir in den Kopf, dass das Quatsch ist, denn weder ein Ort, an dem man auf einen Menschen wartet, der einen unverständlichen Wert von kleinen Röhrchen an Heizkörpern abliest, noch den Ableser selbst würde man vermissen, wenn man sich an einem ganz anderen Ort befände. Und Heimat ist doch etwas, das man vermisst, wenn man gerade ganz woanders ist. Also frage ich den Heizungsableser: „Was ist Heimat? Also nicht so global, sondern eher: Was ist die kleinste Zelle von Heimat?“ Er schüttelt mit dem Kopf und sagt: nichts. Warum habe ich auch ausgerechnet den Ableser gefragt, frage ich mich nun. Vermutlich hätte er etwas sagen können wie „Heimat ist da, wo man die Heizung anstellt, wenn einem kalt wird“, oder so ähnlich. Stattdessen gibt er mir den Ratschlag, doch einfach mal im Internet zu recherchieren.

Wochen später, Zwischenstop im Café: Vertraute Gesichter, die bewährte Tageszeitung, Cappuccino. Es ist eine Art Offline-Social-Network, ganz ohne lästige Kontaktanfragen von Leuten, die man nicht kennt und auch nicht kennenlernen will, oder Hinweise darauf, was irgendwem gefällt. Es ist gut hier, denke ich, während ich auf meinem roten Lieblingssofa sitze und ein Stück Käsekuchen genieße.

Stunden später Berlin, am selben Abend, Hauptbahnhof: Sushi, Burger, Krautsalat im Roggenbrötchen, Naturkosmetik, Drogeriemarkt, Fotoladen, WC-Center; an den Bahnsteigen: Wartende, Abschiede, Begrüßungen. Manche steigen in den Zug, andere werfen sich vor ihn. Lautsprecherdurchsagen, Werbeplakate, Coffe-to-Go, Schließfächer, Bahnhofsmission, Friseur, Rollschuhe verboten, Autovermietung, Stadtrundfahrt. Seit Wochen beschäftigt mich die Frage nach der kleinsten Zelle von Heimat, DkZvH, wie ich sie mittlerweile liebevoll nenne, seitdem mich die Macher dieses Magazins darum gebeten haben, darüber einen kleinen Beitrag zu verfassen.

Kann Berlin eine Heimat sein, wenn schon der Hauptbahnhof so unübersichtlich ist? Die kühle Architektur, die Hektik, das Stimmengewirr laden zur Umkehr nach Hamburg ein, aber dort ist es am Bahnhof genau so, nur etwas kleiner. Aber muss man an Heimat alles uneingeschränkt lieben?An Hamburg mag man den Hafen und die Elbe. Aber was ist mit Mümmelmannsberg und der Elbphilharmonie? An St. Pauli mag man den Charme des etwas Heruntergekommenen, Astra aus der Flasche und vielleicht auch noch den Fußballverein. Aber was ist mit den besoffenen Touristen und der Hundescheiße auf der Straße? Und Berlin? So schlecht ist es nicht, wie alle in Hamburg immer sagen.

Die Suche geht weiter: Die kleinste Zelle von Heimat, das ist ein Ort, an dem man doch vielleicht alles uneingeschränkt mögen kann. Ich begebe mich noch einmal ins Internet. In das Feld der Suchmaschine gebe ich jetzt nur das Wort „Heimat“ ein: Heimat ist eine Werbeagentur, verrät mir die Suchmaschine und zweifle, ob „Heimat“ wirklich eine Heimat ist. Ich schlage in der Wikipedia nach: „Heimat verweist zumeist auf eine Beziehung zwischen Menschen und Raum […] Mit dem Wort „Heimat“ können somit nicht nur konkrete Orte (die Heimstätte eines Menschen), sondern ganz allgemein auch reale oder vorgestellte Objekte und Menschen bezeichnet werden, mit denen Menschen sich identifizieren und die sie positiv bewerten.“

Ich versuche, mir ein vorgestelltes Objekt vorzustellen, das ich positiv bewerte: ein Wiener Schnitzel – groß wie ein Teller, dünn wie ein Pfannkuchen, knusprig dünn paniert, innen saftig. Aber was ist mit der Identifikation? Identifikation ist auch das Einfühlen in eine andere Person. Selbst unter der Annahme, dass ein Schnitzel eine Person wäre, möchte ich mich nicht mit einem Schnitzel identifizieren. Nicht einmal mit der Vorstufe des glücklich auf einer grünen Weide grasenden Bio-Kalbes. Ein Schnitzel ist also keine Heimat und somit beinhaltet es auch nicht DkZvH.

Ziemlich genau sechs Wochen hatte ich Zeit für diesen Text, in weniger als zwei Stunden muss ich ihn abgeben. Was DkZvH ist, weiß ich noch immer nicht. Ich beginne zu verzweifeln, verwerfe alle Genken über Suchmaschinen, Bahnhöfe, Werbeagenturen, Identifikation und Fleischgerichte und tippe in meinen Rechner: Die kleinste Zelle von Heimat ist das bequeme Sofa, auf dem ich gerade sitze.

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Dieser Beitrag wurde im Mai 2010 im stijlroyal Heimatmagazin #13 veröffentlich. Es erschien unter anderem in den limitierten Sondereditionen „Zenzi“, „bosch“ und „Café du passage“.