Die Heizung ist gebändigt und die Raumtemperatur ist mittlerweile konstant angenehm. Aber ich kann nicht immerzu nur im warmen Kämmerlein sitzen. Irgendwann muss man, also ich, auch mal raus: Arbeiten oder Kaffeetrinken – im Idealfall beides gleichzeitig. Der Schnee da draußen wird langsam zu Matsch, trotzdem ist es noch immer sehr kalt. Straßenabahn M10: Vormittags und Abends stehen die Menschen dicht gedrängt und riechen oft genau wie sie gestimmt sind: übel. Ein Paradies nur für Frotteure. Gäbe die BVG ihren Zügen Städtenamen wie die Lufthansa ihren Flugzeugen, könnten sie Sheffield oder Duisburg heißen. Wenigstens hier kann man beim rasanten Anfahren und Bremsen die Trägheit der Masse überlisten und wenigstens einmal im Leben standfest bleiben, denke ich, während ich im Augenwinkel eine gute Bekannte entdecke, die aber zwei Türen weiter steht, und auch deswegen für mich unerreichbar ist. An der Warschauer Straße bin ich froh, endlich aussteigen zu dürfen. Mein Bedürfnis nach menschlicher Nähe ist nur scheinbar für den Rest des Jahres gedeckt.
Das neue Album „Krokus“ ist ganz wunderbar. Nicht zum ersten Mal überschlagen sich die Kritiker mit Lob – zurecht. Freitagabend, Konzert, Lido, Kreuzberg. Türsteher: „Nimm mal die Mütze ab, ich muss da mal druntergucken.“ Ich nehme die Mütze ab. Türsteher (harsch): „Das sind professionelle Ohren. Mit denen kommst Du hier nicht rein. Du musst sie an der Kasse abgeben.“ Ob es keine andere Möglichkeit gebe, frage ich. „Du hättest Dich akkreditieren können.“ „Gut, dann mache ich das“, antworte ich. „Das ging nur bis gestern.“ Ohne meine professionellen Ohren betrete ich den Konzertsaal.
Fast so war es. Nur meine Ohren sind meine Kamera. Sie wird einkassiert – obwohl Plattencover und Bühnenbild groß eine alte Leica zieren. Aber wozu auch Fotos von Konzerten machen? „Take it in your heart, instead of taking pictures“, antwortet mir jemand, nachdem ich mich auf Twitter über die Politik des Clubs ärgerte. Die Kölner Band betritt die Bühne, der erste Basslauf, mein Ärger löst sich auf.
„Petersilie“, raunt Texter und Sänger Markus Berges ins Mikrofon, aber nichts passiert. „Es soll Frauen geben, die brechen von ihren Gefühlen überwältigt vor der Bühne zusammen, wenn der kleine Mann mit der großen Brille das Wort »Petersilie« raunt“, stand am Morgen in einer Berliner Lokalzeitung. Niemand aus dem Publikum hat anscheinend die Zeitung an diesem Tag gelesen – oder der Sänger hat nicht genug geraunt.
Alles Neue und ein bißchen Altes wird in gut zwei Stunden zu Gehör gebracht. „Es ist ein Pianoalbum geworden“, behauptet der Sänger. Nicht ganz, denn Krokus ist tatsächlich auch ein Bass-, Schlagzeug-, Posaunen-, Gesangs- und Lyrikalbum. Alles hat seinen Platz, Musik und Text bilden eine Einheit. Und so erfreuen wir uns auch auf dem achten Album nicht nur an grünen Küchenkräuter, sondern auch über andere ungewöhnliche Worte wie „Silageplane“, „Bierbike“ und „Hygienemuseum“, die sich harmonisch zu „Dreierbahn“, „Drehcafé“ und „Raststättengaststätte“ gesellen. Unzählige kleine, liebevoll ausgfeilte Melodiefragmente bleiben uns im Ohr hängen. Auch auf dem neuesten Werk gibt es bei jedem Hören wieder neue Details zu entdecken.
Noch wackeln manche der neuen Lieder in den ersten Takten ein wenig. Das macht nichts, denn auch sie haben das Zeug schon bald zu Klassikern zu gehören. Befreit von der Konserve werden sie dann auch in neuem Glanz erstrahlen wie das „Vergnügungslokal mit Weinzwang“ von „Altes Gasthaus Love“ oder „Leben ist trivial“ vom Debutalbum „Das Ende der Diät“.
Zwischendurch immer wieder etwas geraunte Petersilie. Das Publikum mag das sehr – genau wie die neuen Krokusse. „Ihre Lieder sind anders“, hieß ein vor fünf Jahren erschienenes Hildegard-Knef-Coveralbum, auf dem auch die Erdmöbel vertreten waren. Aber vor allem ihre Lieder sind anders, also ganz anders als alles andere. „Wir waren sehr nervös. Schließlich ist es ein großes Risiko am Erscheinungstag der Platte alle neuen Lieder im Konzert zu spielen“, erzählte mir der Bassist Ekimas nach dem Konzert. Es ist gelungen.
Berlin wird die Erdmöbel schon bald wiederhören können – bereits am 18.10.2010 spielen sie im Babylon zur Lesung von Markus Berges erstem Roman „Ein langer Brief an September Nowak“. Aber auch durch den Rest der Republik wird dann getourt. Geht hin!
Internationale Funkausstellung Berlin, ich streife über das endlose Messegelände. Die Besucher reißen sich um überdimensionierte Tragetaschen der Aussteller, in denen sich zumeist nichts weiter befindet als ein Handzettel in der Größe DIN A5 und ein Werbekugelschreiber. Beutelratten. Die Currywurst kostet 5 Euro und schmeckt nach Glutamat. Das Schlimmste an Messen ist die Verpflegung. Es sei denn, man hat einen Presse- oder Fachbesucherausweis. Dann darf man schon mal bei einem Hersteller minderwertiger Plastikhardware backstage eine Brezel essen und ein Weizenbier auf’s Haus genießen. Dafür muss man aber nicht nur seine Daten am Empfangsschalter hinterlassen, sondern auch an einer Produktpräsentation teilnehmen. Ich bin im Besitz eines dafür erforderlichen Ausweises, lasse mir aber ungern stundenlang die Vorzüge einer neuen Telefonhülle erklären und so schlimm ist die überteuerte Currywurst nun auch wieder nicht.
Wohin man blickt: Weißwaren. Die meisten von ihnen sind ganz gewöhnliche Waschmaschinen oder Kühlschränke – nicht einmal über WLAN verfügen sie. Des weiteren liegen Fernseher im Trend: wie jedes Jahr werden sie immer flacher (genau wie das Programm, das sie zeigen) und jetzt können sie sogar 3D. An einem Stand für Televisionsgeräte tanzen magere Modelle ungelenke Tänze. Dabei werden sie gefilmt und das Livebild wird auf einen dieser modernen Fernseher übertragen. Messebesucher stehen davor und tragen alberne Brillen während sie in die Geräte starren und klagen über Kopfschmerzen. Wenn es nach den Ausstellern ginge, wird es bald nur noch 3D-Bilder geben. Also genau wie vor der Erfindung des Fernsehens, nur mit Kopfschmerzen.
Eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt belegt eine eigene, sehr große Halle. Beim Betreten spürt man sofort, wie hier Rundfunkgebühren verpuffen. Hinter einem langen Tisch sitzen drei Junge Menschen, die Autogramme geben. In unregelmäßigen Abständen umarmen sie sich und lächeln in ein Blitzlichtgewitter. Sie sind beliebter als die übergroße Sendung-mit-der-Maus-Maus, die niemand fotografieren will. Vermutlich sind sie sogar ein bißchen bekannt – aus Film, Funk und Fernsehen, wie man früher so schön sagte. Ich kenne sie nicht.
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