David Lynch Presents Interview Project Germany: „Ein stinknormales Leben“

David Lynch presents Interview Project Germany: Zwei amerikanische Dokumentarfilmer fahren kreuz und quer durch Deutschland, um ganz normalen Menschen Fragen zu stellen. In 27 Tagen führen sie 50 Interviews.

Gestellt werden klare Fragen: „Wie war meine Kindheit?“, „Wie würde ich mich selbst beschreiben?“, „Gibt es etwas, was ich bereue?“, „Was war das einscheidendste Erlebnis in meinem Leben?“, „Wie war meine Jugendzeit?“, „Worauf bin ich stolz?“, „Wie ist mein Erwachsenenleben bis jetzt gelaufen?“ und „Wie würde ich gern in Erinnerung bleiben?“

„Das Rohmaterial von 30 bis 40 Minuten pro Interview haben die beiden Filmemacher im Schnittraum zu fünfminütigen Videos verdichtet. Vieles bleibt im Dunkeln, vieles nur angedeutet und unvollständig. Doch gerade in der Kürze liegt der Charme: Zurechtgestutzt auf das im Facebook- und YouTube-Zeitalter übliche Clip-Format funktionieren die Interview-Porträts von Austin Lynch und Jason S. wie eine Antithese zum Web-2.0-Entertainment-Zwang,“ schreibt Christoph Twickel auf Spiegel Online.

Nach und nach werden die Filme veröffentlicht. Über ihre Reise, die sie vor allem in die Provinz führte, berichteten die Filmemacher in ihrem Blog. Ein spannendes Projekt.

Fernsehschirm

Konnte ich mich vor zwei Jahren noch dem gemeinschaftlichen Betrachten von fußballerischen Großereignissen erfolgreich entziehen, so habe ich in diesem Jahr den Widerstand gegen das so beliebte öffentliche Anschauen – zumindest für einige wenige Spiele – aufgegeben.

In der prallen Mittagssonne wurden im Innenhof des Hotels Michelberger in Berlin-Friedrichshain Bier und Bratwürste gereicht. Das machte das Gekicke von Serbien gegen Deutschland halbwegs erträglich. Junge Frauen, die sich womöglich aus kalorischen Gründen von Bratwurst und Bier fernhielten, strickten in einem Tempo, das es fraglich erscheinen ließ, ob die selbstgefertigten Schals noch bis zum kommenden Winter fertig gestellt werden könnten. Immer häufiger sieht man jetzt wieder junge Frauen beim Stricken. Sie alle tun dies vermutlich nicht, um ihre Erzeugnisse auf einem Internetmarktplatz für Unikate gewerbsmäßig zu veräußern oder um ihren noch längst nicht vorhandenen Enkelkindern einen vermeintlichen Gefallen zu tun, sondern sie benötigen etwas Zerstreuung: Von 90 Minuten, die ein Fußballspiel gewöhnlich dauert, passiert in 85 Minten zumeist nichts wirklich Spannendes.

Da wäre es nicht weiter tragisch gewesen, wenn der Betreiber den Schirm noch etwas weiter vor den Fernseher gehängt hätte. Man verpasst ja doch nichts.

Den einzigen Ansatz einer Leidenschaft, die das andauernde Fußballturnier bei mir ausgelöst hat, ist das Sammeln von Team-Stickern, die sich in Duplos befinden. Mir fehlen übrigens noch die Nummern 5, 10, 12, 17, 19, 22, 24, 25, 31, 33, 38 und 42.

Kleine Schleswig-Holstein-Tour

Verfall in der schleswig-holsteinischen Provinz

Wir fahren auf einer Landstraße im Niemandsland zwischen Nordfriesland und Dithmarschen. Das Land ist hier sehr flach. Ich befinde mich auf dem Beifahrersitz und ziehe die imaginäre Notbremse. Mein Auge hat soeben etwas sehr häßliches entdeckt – ich muss es photographieren, ich kann nicht anders.

Irgendwo dort, wo Ortschaften Namen wie Wesselburen, Haferwisch oder Oesterwurth tragen, ist der Verfall der Provinz nicht mehr aufzuhalten.

Ein paar Meter weiter, am Eidersperrwerk, weht ein rauher Wind. Karg ist es hier, sehr karg. Ein kilometerlanger Deich aus Beton säumt die Straße.

Am Eidersperrwerk
Am Eidersperrwerk

Wer nun meint, im nahegelegenen Kurort Sankt Peter-Ording einer landschaftsbedingt aufkommenden Melancholie entgehen zu können, der irrt.

Sitzbank am Strand von Sankt Peter-Ording
Sitzbank am Strand von Sankt Peter-Ording

Hier ist es nämlich auch nicht besser: gelangweilte Kurgäste, mittelmäßige Eiscafés und unzählige Geschäfte für Windjacken.


Weitere Photos:

Provinz

Stets versuche ich, meine kleinstädtische Herkunft so gut es geht zu verbergen. Nicht nur, dass Gedanken an Kleinstädte in mir Beklemmungen auslösen, kratzen sie auch noch an meinem über Jahre mühsam aufgebautem Hanseatenimage. Dabei stammen die meisten Menschen, die ich kenne, leben sie nun heute in Berlin, Hamburg oder München, aus irgendeiner Art von Provinz. Gedanklich jedoch haben alle die Kleinstadt längst hinter sich gelassen. Auch ich kann nach einem halben Leben in der Urbanität sagen: Verdrängung findet statt, Verdrängung hilft, Verdrängung ist gut.

Manchmal ist es unvermeidbar und gewisse Umstände ziehen mich aufs Land. Das einzige, was noch schlimmer ist als Kleinstädte, sind Dörfer. An jeder Ecke riecht es verdächtig nach einer Mischung aus Schützenverein, freiwilliger Feuerwehr und Dung. Nach 18 Uhr kann man kein Bier mehr kaufen und schnelle Internetleitungen sind Mangelware. Kreuzen Bürgermeister, Pfarrer oder Landarzt den Weg, zieht man seinen Hut; das gehört sich so. Fremde werden mit Argwohn beäugt, sogenannte Fremdenzimmer indes sind in großen Mengen verfügbar. Natürlich sind alle Fremdenzimmer frei, wie es die Schilder in den unser-Dorf-soll-schöner-werden-Wettbewerbs-gepflegten Vorgärten verheißen, denn niemand will in einem Dorf seinen Urlaub verbringen. Abends trifft man sich bei Bier und Korn im Dorfkrug und morgens um fünf kräht der Hahn: tagein, tagaus. Bis auf den Tag, an dem Schützenfest ist – dann hängen überall bunte Wimpel und es gibt Blasmusik.

Ich muss in die Stadt. Sofort.


Weitere Fotos aus der Provinz gibt es hier.