Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben

Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben

Keiner fühlte sich wie die anderen. Die Menschen sind
doch immer zu dick, zu dünn, sie sind taub oder blind,
Contergan-Opfer, die Eltern geschieden oder Trinker oder zu
spießig, sie sind homosexuell oder sexsüchtig oder asexuell,
zu groß, zu klein, sie haben Autismus oder Epilepsie,
Herzprobleme,Schweißfüße, einen Buckel, Akne, keiner
entspricht der Norm, und selbst aus Metall gestanzte Figuren
wie Bankangestellte oder Versicherungsmitarbeiter, Anwälte
und Mitarbeiter diverser Aufsichtsräte leiden unter Blasenschwäche.
Als Teil der Welt, die doch allen gleichermaßen gehört, fühlt sich keiner.

(Sibylle Berg, „Vielen Dank für das Leben“)

Eine Sado-Maso-Schmonzette, einen Tageszeitungs-Herausgeber-Mord-Schweden-Krimi, eine Präsidenten-Gattin-Regenbogen-Biographie und ein auf Papier gedrucktes Piratinnen-Machwerk über Sex mit Pferden. Es ist nicht schön, Feuilletonist zu sein, dieser Tage. Was man alles lesen muss: ein kakophonischer Kanon.

Und dann kommt da „Vielen Dank für das Leben“ von Frau Berg. Wir kennen sie seit langem und wissen, dass wir naturgemäß von ihrem Werk an grauen Herbsttagen keine Stimmungsaufhellung erwarten dürfen, aber das wollen wir auch gar nicht, denn schließlich steht Frau Berg nicht umsonst in unserem Bücherregal neben Thomas Bernhard.

Die Hauptfigur des Romans heißt Toto, ist ungewollt und wächst in einem Kinderheim in einem östlichen Land auf. Toto ist weder Junge noch Mädchen und das ist ihm egal, aber seiner Umwelt nicht. Sein Leben lang bekommt er auf die Fresse, weil er anders ist als die anderen. Toto ist  gleichmütig. Um ihn herum ist alles schlimm. Menschen schlimm, Politik schlimm, Wirtschaft schlimm, Kunst schlimm. Manchmal singt Toto mit seiner viel zu hohen Stimme ein Lied und die Menschen lachen darüber. Alles, was es auf der Welt gibt, spielt ihr übel mit. Toto hingegen ist gut. Toto ist keine Heldin, bewältigt trotz der allergrößten Naivität irgendwie das Leben und glaubt, dass alles vielleicht noch gut werden könne, was es aber niemals wird. Alles ist schwarz-weiß, aber eben meistens doch schwarz.

Frau Berg kann schreiben, oh ja, das kann sie. Wir sollten es lesen. Vielen Dank für das Buch.

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Wolfgang Tischer vom Literaturcafé spricht mit Sibylle Berg: hier.

Tschick

Außenseiter sein, bescheuerte Eltern haben, in Mädchen verlieben, nicht zur Party eingeladen werden, Freund finden, Bild malen, alten Lada klauen, Musik hören, Wegfahren, Abenteuer erleben, fast küssen, Himbeeren essen, angeschossen werden, Unfall bauen, verhaftet werden, Ärger kriegen, nach Hause kommen, in den Pool springen.

All das und noch viel mehr ist Tschick – ein Roman Wolfgang Herrndorf. Jeder, der das Buch gelesen hat, hat es gern getan und täte es jederzeit wieder. Ich auch.

Elfenbeinturm

Schauspieler schreiben Bücher. Schriftsteller nehmen Schallplatten auf. Musiker drehen Filme. Jeder scheint heute alles zu können. So auch der bärtige Pianist aus Kanada, für den ich mich zuvor nie sonderlich interessierte. Die kombinierten Eintrittskarten für den Film und ein Konzert im Anschluss schenkt man mir zum Geburtstag. Obwohl mir bei Überreichung des Präsentes zu verstehen gegeben wird, dass die musikalischen  Vorlieben des Beschenkten bei der Auswahl eine eher untergeordnete Rolle spielten, freue ich mich darüber. Leider fällt es mir schwer, dies angemessen zum Ausdruck zu bringen. Warum nicht auch mal offen für Neues sein, denke ich mir, wohl darum wissend, dass ich das Alter, in dem man für grundlegende musikalische Neuentdeckungen aufgeschlossen ist, längst überschritten habe.

Der Film ist ordentlich. Wer in seiner Jugend Rocky oder Karte Kid mochte, der mag auch dieses Werk: Es geht um die Rivalität zwischen Brüdern, eine komplizierte Liebesbeziehung zwischen Frau und Mann sowie eine besondere Form des Schachspiels, dessen Ziel ein Unentschieden ist. Toll.

Ein paar Fragen zum Film werden beantwortet, dann setzt sich der Musiker, der sich gern als „Genie“ bezeichnen lässt, an den leicht verstimmten Flügel. Zumindest in seiner etwas gekrümmten Sitzhaltung erinnert er an seinen Landsmann Glenn Gould. Er wirkt mürrisch und etwas gelangweilt. Recht mechanisch greift er mit seinen Händen, die so groß wie Klodeckel sind, in die Tasten. Ein bißchen Improvisation, ein bißchen Wunschkonzert – nach einer halben Stunde des Spielens hat er seine Pflicht getan. Applaus.

Eine kleine Buchkritik

Die 300 Seiten sind schnell gelesen – in einem Rutsch. Sie wirken auch etwas zügig dahingeschrieben, was dem Werk vermutlich nicht gerecht wird. Der Schreiber ist ein guter Erzähler, aber der große Roman ist womöglich nicht seine Form. Die Worte mussten trotzdem raus. Diverse Nebenhandlungsstränge sind etwas zu ausführlich geraten, manche der handelnden Personen bleiben etwas blass.

Viel Stoff zum Nachdenken gibt das Buch dem Leser nicht, wenngleich ihm auch eine gewisse Unterhaltsamkeit nicht abzusprechen ist. Immerhin. Das alles ist kein Grund, auf dem Autoren herumzuhacken – und immer noch besser als vier Stunden Privatfernsehen. Kurzweilige Unterhaltung ist schließlich kein Makel, sondern ein Genre.

(Möglicherweise fände das Druckerzeugnis nach der ersten Lektüre rasch seinen Weg ins Antiquariat, wenn es nicht das Geschenk einer mir sehr nahestehenden Person gewesen wäre. Nun wird es in Würde in meinem Regal verstauben.)