Myll, 13. September 2012: Brief

11.27 Sie zeigt mir einen Brief von Rainald Goetz, dessen Inhalt gar keine Rolle spielt, wie ja überhaupt in der Schriftstellerei zumeist die Form eine größere Rolle spielt. Allein die Tatsache, dass Goetz Briefe schreibt, ist interessant. Auffällig, seine Handschrift: geschwungen, markant, aber trotzdem gut lesbar. Man erkennt sofort den geübten Briefeschreiber usw. Schriftsteller sind ja die einzigen, die nach wie vor immerzu Briefe schreiben müssen, damit irgendwann Bücher mit ihren Schriftwechseln erscheinen können. Ein später Dank und Gruß an die herausgebenden Witwen und Literaturwissenschaftlerinnen. Anstrengend, immer im Hinterkopf haben zu müssen, dass ja irgendwas bleiben müsse, anstatt schnell wegzulöschende elektronische Kurzmitteilungen zu verfassen. Stattdessen Briefe und Postkarten, verfasst mit dokumentenechter Tinte.

Handgeschriebene Briefe und der Euro werden verschwinden, genau wie auch die Liebe verschwunden ist. Und irgendwann, ganz zum Schluss, wird auch das Internet weg sein. Aber das ist dann so egal, wie eigentlich alles egal ist. Bald gibt es wieder Bodenfrost.

Kartoffelmaschine

Sigmar Polke; Apparat, mit dem eine Kartoffel eine andere umkreisen kann; 1969

Während in Berlin in dieser Woche der Kunstbär steppt, holt man in Hamburg die alten Schinken aus dem Keller. 15 Jahre steht der Kubus der Galerie der Gegenwart nun neben dem Hauptbahnhof und was läge näher, als in 15 Räumen 15 Künstler aus der eigenen Sammlung zu präsentieren? Warhol, Baselitz, Richter, all das hat man schon oft gesehen, und während ich etwas gelangweilt Raum um Raum durchschreite, bleibe ich plötzlich an einer Installation hängen, die mich wie keine andere zu erfreuen vermag.

Es ist ein Apparat, aber freilich kein bösartiger wie in Kafkas Strafkolonie, sondern ein freundlich sinnloses Ding: Sigmar Polkes „Apparat, mit dem eine Kartoffel eine andere umkreisen kann“ besteht aus einem modifizierten Holzstuhl, einer Metallstange, einem Gummiband, einem Motor und zwei auswechselbaren Kartoffeln. Gewöhnlich tut diese Installation genau das, was ihr Name verspricht. Da mich, anders als bei den anderen gezeigten Kunstwerken, kein Warnschild von der Aktivierung des Apparates abhält, betätige ich voller kindlicher Freude den Knopf, um die eine Kartoffel um die andere Kreisen zu lassen. Was dann passiert: Nichts. Der Motor röhrt ein wenig, sodann eilt ein Mitarbeiter des Wachpersonals herbei, um mich aufzuklären, dass es verboten sei, den Knopf zu drücken und dass der kartoffelantreibende Riemen defekt sei. Ob eine Instandsetzung geplant sei, wisse man nicht. Ich bedaure dies, denn eine kreisende Kartoffel hätte mir sicher diesen tristen Herbsttag versüßen können.

Und so bleibt mir nichts anderes, als immer und immer wieder das Video der funktionierenden Installation anzuschauen und zu hoffen, dass eine Dame aus dem Freundeskreis der Hamburger Kunsthalle ihr Haargummi für einen wirklich guten Zweck spenden möge.

Hündin und Herr

Ich bin auf den Hund gekommen wie man sagt,
Der Hund bestimmt mein ganzes Leben
Seit diesem Tag.
Ich gehe vor die Hunde wenn,
Ich ihn nicht mehr hab.

(Tocotronic)

Abhängigkeiten ketten sie aneinander, sie sind wie ein altes Ehepaar. Vielleicht mochten sie einander früher einmal. Rudolf, der Herr, hat Blondi, seine Hündin, ab und zu getätschelt und regelmäßig gefüttert. Blondi bedachte Rudolf dafür mit einem freundlichen Blick. Irgendwann aber haben sie sich auseinander gelebt. Trotzdem gehen sie noch täglich miteinander vor die Tür, denn ohneeinander geht es auch nicht. Wenn Blondi nicht so recht will, wie er es gern hätte, schreit er sie an. Sogar Anzeichen von Tätlichkeiten kann man gelegentlich beobachten. Blondi erträgt all dies seit Jahren mit der allergrößten Gleichmut. Im Laufe der Zeit hat die Hündin es gelernt, sich an Rudolf zu rächen. Wo sie nur kann, trödelt sie, schnuppert hier und da an irgendwelchen Dingen, die sich am Wegesrand befinden, und bleibt immer häufiger unvermittelt stehen. Immerzu lässt sie Rudolf, der es nicht besser verdient hat, auflaufen. Blondi emanzipiert sich. Wüsste man es nicht besser, könnte man manchmal sogar meinen, dass Blondi Rudolfs nunmehr Herrin sei. Tagein, tagaus machen sie einander das Leben schwer, obwohl sie einander doch Zuneigung und Vertrauen entgegenbringen sollten. Die Hölle, das sind sie beide. Rudolf wird immer jähzorniger. Blondi bestünde die Prüfung zur Blindenhündin heute wohl nicht noch einmal.

Myll, 31. August 2012: Jusos

1932. Wir klappern die nun alle ab. Heute Sommerfest der Jusos. Obwohl die Mutterpartei mit absoluter Mehrheit regiert, feiert man bescheiden auf einem Parkplatz. Es gibt Würstchen vom Grill, Kartoffelsalat aus Eimern und warmes Bier. Ein Juso, der uns begrüßt, sagt, er interessiere sich nicht sonderlich für Europa, er wolle Hamburg gestalten usw. Ein Bundestagsabgeordneter geht von Tisch zu Tisch und begrüßt alle. Der jungsozialdemokratische Vorsitzende trägt ein Jacket und spricht ein wenig im Duktus von Helmut Schmidt, zieht allerdings immerzu an einer albernen E-Zigarette. Hätte Helmut Schmidt E-Zigarette geraucht, wäre er niemals Kanzler geworden.