Myll, 13. September 2012: Brief

11.27 Sie zeigt mir einen Brief von Rainald Goetz, dessen Inhalt gar keine Rolle spielt, wie ja überhaupt in der Schriftstellerei zumeist die Form eine größere Rolle spielt. Allein die Tatsache, dass Goetz Briefe schreibt, ist interessant. Auffällig, seine Handschrift: geschwungen, markant, aber trotzdem gut lesbar. Man erkennt sofort den geübten Briefeschreiber usw. Schriftsteller sind ja die einzigen, die nach wie vor immerzu Briefe schreiben müssen, damit irgendwann Bücher mit ihren Schriftwechseln erscheinen können. Ein später Dank und Gruß an die herausgebenden Witwen und Literaturwissenschaftlerinnen. Anstrengend, immer im Hinterkopf haben zu müssen, dass ja irgendwas bleiben müsse, anstatt schnell wegzulöschende elektronische Kurzmitteilungen zu verfassen. Stattdessen Briefe und Postkarten, verfasst mit dokumentenechter Tinte.

Handgeschriebene Briefe und der Euro werden verschwinden, genau wie auch die Liebe verschwunden ist. Und irgendwann, ganz zum Schluss, wird auch das Internet weg sein. Aber das ist dann so egal, wie eigentlich alles egal ist. Bald gibt es wieder Bodenfrost.

Myll, 31. August 2012: Jusos

1932. Wir klappern die nun alle ab. Heute Sommerfest der Jusos. Obwohl die Mutterpartei mit absoluter Mehrheit regiert, feiert man bescheiden auf einem Parkplatz. Es gibt Würstchen vom Grill, Kartoffelsalat aus Eimern und warmes Bier. Ein Juso, der uns begrüßt, sagt, er interessiere sich nicht sonderlich für Europa, er wolle Hamburg gestalten usw. Ein Bundestagsabgeordneter geht von Tisch zu Tisch und begrüßt alle. Der jungsozialdemokratische Vorsitzende trägt ein Jacket und spricht ein wenig im Duktus von Helmut Schmidt, zieht allerdings immerzu an einer albernen E-Zigarette. Hätte Helmut Schmidt E-Zigarette geraucht, wäre er niemals Kanzler geworden.

Myll, 24. August 2012: Fischli/Weiss

Peter Fischli & David Weiss: Findet mich das Glück?

0457. In einem Anfall von präseniler Bettflucht „Findet mich das Glück?“ von Fischli/Weiss gelesen. „Ist meine Dummheit ein warmer Mantel?“ Bekomme immer gute Laune, wenn ich das Buch zur Hand nehme; die perfekte Klolektüre. „Herrscht tiefer Friede in meiner Wohnung, wenn ich nicht da bin?“ Fragen über Fragen, eine amüsanter als die andere. „Wem nützt der Mond?“ Ich kann keine einzige beantworten. Plötzlich stocke ich: „Braucht es mich (noch)?“ – Die Antwort scheint ganz einfach zu sein, wenn man auf dem Klo sitzt.

1452. „Kennen Sie meine Tochter?“, so der freundliche ältere Herr im Café zu mir, nachdem er vermutet, dass ich mitgehört habe, wie er der Bedienung etwas wenig schmeichelhaftes über sie erzählte. „Nein“, so ich. „Na, dann ist ja gut.“ – Nach kurzem Nachdenken komme ich dararuf, dass ich seine Tochter doch kenne. (Er hatte naturgemäß mit allem, was er sagte, recht.)

Myll, 22. August 2012: Boutique Bizarre

2147. Besuch der Boutique Bizarre. Am Wochenende erhebt das Erotikfachgeschäft für Fetischbedarf von den Touristen ein Eintrittsgeld. Heute kommen wir kostenlos herein. Oben gibt es Sexpuppen und mundgeblasene Glasdildos, unten vornehmlich Saugglocken für Geschlechtsteile sowie Gynakologenstühle usw. Trotz des Erfolges der Sado-Maso-Schmonzette Fifty Shades of Grey muss ich feststellen, dass Latexkopfmasken mit eingebautem Einhorndildo noch immer keinen übermäßig reißenden Absatz finden. BDSM scheint bislang nur im Feuilleton angekommen zu sein.

2212. In der Meanie Bar gegenüber legt der Nachfolger Musik der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf. Wir sind einander nie begegnet, erkennen uns aber sofort. Nicken, gehen und vergessen.

2223. Burger. Nicht lecker.

2257. Ich will noch einmal „Fuck You“ am Pudel sehen. Leider blauleuchtende Lichtinstallation bereits entfernt. Das macht mich traurig. (Normalerweise verpasst man ja nichts, weil man immerzu überall sofort hinrennt. Diesmal ist es zu spät.)

0003. Spaziergang durch die Nacht. Mit ihr muss man immer Latschen. Und zwar viel.

0104. Wir gehen zu ihr, sie legt mir die Karten. Das ist naturgemäß alles Quatsch. Alles scheint irgendwie auf jeden ein bißchen zu passen (wie Horoskope aus der Smartphone-App, die Y. mir damals in der Z Bar vorgelesen hat usw.).

0458. Eigentlich will ich einen Sonnenaufgang fotografieren. Mein innerer Instagram-Stream verlangt danach. Bin aber zu müde. Schlafe ein.